Brief vom 29. Mai 1775, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 29. Mai 1775

Ich halte dafür, mein theürester Freünd, daß es eben so wol einer Gratulation werth sey, wenn man ein rühmlich geführtes Amt mit Ehren niederlegt, als da man es angetreten hat. Nehmen Sie also meinen Herzlichen Glükwunsch zu der Vollendung ihrer öffentlichen Beruffsgeschäffte an. Von ganzem Herzen freüe ich mich mit Ihnen über das Ende und so glüklich erreichte Ziehl ihrer öffentlichen Lauffbahn. Möchten Sie izt noch lange der angenehmen Aussicht über den zurükgelegten Weg genießen und das Vergnügen ihre Geschäffte überlebt zu haben, den Dank des Publici zu genießen und die Früchte ihrer vollendeten Arbeiten zu sehen, noch lange einhauchen. In dem Falle, worin Sie sich izt befinden, glaubte ich noch vor einem Jahr, mich zu befinden, und damals kostete ich die Glükseeligkeit seine Laufbahn gut vollendet zu haben. Aber ich habe sie wieder aufs neüe angefangen, und bin durch einen frischen Landwind wieder aus dem Hafen ins Meer getrieben worden. Doch hoffe ich nicht wieder das Land aus dem Gesichte zu verliehren. Das Vergnügen, von dem ich spreche, und das bey Ihnen nicht ausbleiben kann, muß hinreichend seyn Sie für alle Hohnnekereyen der dummen Critiker schadlos zuhalten. Laßen Sie uns, mein theürester, da wir uns in einerley Fall befinden, mit dem Beyfall der Beßern, durch unser eigenes Bewußtseyn, etwas gutes gethan zu haben, unterstüzt, zufrieden seyn und das uns gewiß unschädliche Geschwäz, derer, die unser Gutes nicht erkennen, verachten. Ich gebe mir nicht einmal die Mühe mich zu erkundigen, wie meine Arbeit aufgenommen worden, und ich könnte mich nicht entschließen eine einzige schöne Viertelstunde, die ich in selbst gepflanzten Büschen, oder unter einer Schaar selbst gezogenem FederVieh, daran zugeben um zu lesen, was etwa ein undenkender Zeitungsschreiber oder Journalist über meine Schrifften sagt, oder träumt. Sie mein theürester, haben um so viel mehr Ursach zu einer solchen Faßung, als ich, wie mehr gutes Sie gestiftet haben, als ich. Sie haben das erste Licht mitten in der Dunkelheit angezündet, ich habe, da es schon Tag war nur noch einen Fensterladen aufgemacht um etwas mehr Licht zu geben.

In meiner glüklichen Einsamkeit besucht mich niemand der mir die uninteressanten Neüigkeiten der Journale und Gelehrten Zeitungen brächte und ich selbst frage danach nicht; also bleiben sie mir unbekannt. Die Briefe an Klozen habe ich nicht gesehen, die Gelehrten Nachrichten aus Frankfurth, so wie die meisten Schrifften dieser Art, sind nie unter meine Augen gekommen. Ich treibe das Handwerk, als ein dilettante und mache mich nicht anheischig allem nachzuspühren, was andere in der Sache thun, oder gethan haben. Aber ungern vermiße ich die Arbeiten ihrer lezten Jahre, und wenn es nicht Unbescheidenheit wäre, so würde ich mir etwas davon ausbitten.

Das Sendschreiben über die Nachrichten von Lavater ist gewiß von keinem blöden Kopf; doch etwas zu beleidigend. Ich wollte nicht darauf schwoeren, daß nicht unser alte Freünd der Canonicus einigen Antheil daran habe. Der Hiesige Editor (Dr. Teller) hat mir gesagt, daß er noch einige Ausdrüke darin gemildert habe. Lavater bleibt seinen Schwermereyen ungeachtet ein verständiger und liebenswürdiger Man, und seine Physiognomik ist kein schlechtes Buch. Aber er wird mich nie bereden, daß Herder ein guter Schrifftsteller ist, ob ich ihn gleich für einen Mann von Genie halte. Reich schreibet mir, daß ihn der Große Aufwand auf die Physiogn. in Verlegenheit sezet; daß er sich aber dabey als einen recht unintereßirten Buchhändler zeigen wolle.

Nicolai ist gewiß Verfaßer der Freüden des jungen Werthers; aber es kann seyn, daß Moses Mendelssohn ihm den Haupteinfall dazu gegeben hat. Sie fragen mich, wie ich mit diesem stehe. Das weiß ich nicht, weil ich ihn nicht zu sehen bekomme. Von Nicolai habe ich der Verdienste seines Sebaldus und andrer guten Dinge ungeachtet, nur eine ganz mittelmäßige Meinung. Wer sind Casparson, Campe, Weizel, Kochius? Dieser lezte wird doch nicht der Philosoph, Academicus und Hofprediger Kochius seyn sollen? Deucalion soll würklich nicht von Göthe seyn, aber Wieland und seine Abonenten scheinen aus seiner Fabrik. Wieland verdienet durch die mercantilische Erniedrigung seiner Muse, daß er gedemüthiget werde.

So wie die Tage zu oder abnehmen stärkt und schwächet sich auch meine Gesundheit. Izt da es bis 9 Uhr des Abends Tag ist, bin ich des ziemlich schlechten Wetters ungeachtet, beynahe gesund: aber ich weiß auch, daß ich mit den abnehmenden Tagen wieder einfallen werde. Izt nehme ich weder Papier noch Feder in die Hand, als etwa um einen Brief zu schreiben und meist den ganzen vollen Tag bringe ich unter freyem Himmel zu, bey einem blos animalischen Leben.

Hartman hat mir lange nicht geschrieben. Ich dächte dafür stehen zu können, daß er, der verschiedenen Anomalien in seinem Charakter ungeachtet, weder Ihnen noch mir jemal untreü werden wird. Aber in Mitau hat er wegen seiner Jugend, Hize und Unerfahrenheit, sich viel Schaden gethan.

Der Prof. Müller hat gänzlich mit mir gebrochen. Er steht in dem Wahn, daß ich mit offenbarer Hintansezung seiner Person und seiner Verdienste einen seiner jüngeren Collegen zum Rector des Joachimischen Gymnasii gemacht habe, ob ich ihm gleich hoch und theüer versichert, daß ich mich, seit dem ich mein Amt niedergelegt habe, mit solchen Sachen nicht mehr bemenge und gewiß wiße daß diese Promotion blos von dem Minister herkommt, der mir nicht ein Wort vorher davon gesagt hat. Aber Müller beharret deßen ungeachtet in seinem Unwillen gegen mich und ist so betreten, wenn er mich von weitem sieht, wie Göze in Hamburg wenn ihm ein reformirter Prediger begegnet. Das beste wäre, wenn man den wunderlichen Menschen wieder nach Zürich ruffte; denn in dieses Land lernt er sich nie schiken.

Ich denke würklich im Ernst daran künftigen Winter in Nizza oder Pisa zu zubringen. Ehe aber die Gewißheit für mich da ist, daß ich die Reise werde thun können, sehe ich die Sache noch als einen Traum an, einen Traume, den ich darum liebe, weil mich der Hin oder Rükweg zu Ihnen führen würde. Mit diesem süßen Gedanken will ich meinen Brieff beschließen.

JGSulzer

den 29 May 1775.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Stellenkommentar

Reich schreibet mir
Nicht ermittelt, vermutlich nicht überliefert. Reich hatte auf Vermittlung Goethes hin den Verlag von Lavaters aufwendig illustrierten Physiognomischen Fragmenten übernommen. Das vierbändige Werk im Royal-Quartformat auf holländischem Papier war mit vier Titelvignetten, 343 Kupfertafeln und 488 Textvignetten ausgestattet. Zeichner und Stecher waren u. a. Daniel Chodowiecki, Christian Gottlieb Geyser, Johann Heinrich Lips und Johann Rudolf Schellenberg. Vgl. Lehmstedt Reich und die Buchillustration 1989, S. 31 f.
Philosoph, Academicus und Hofprediger Kochius
Der Theologe und Pädagoge Leonhard Cochius.
aber Wieland und seine Abonenten scheinen aus seiner Fabrik
Verfasser des »musikalischen Dramas« Wieland und seine Abonnenten, 1775, war nicht, wie hier von Sulzer vermutet, Goethe, sondern Christian Gotthold Contius. Vgl. dazu Poitzsch Zeitgenössische Persiflagen auf Wieland 1972, S. 121–127.
jüngeren Collegen zum Rector des Joachimischen Gymnasii gemacht
Der aus Stargard in Pommern stammende Johann Heinrich Ludwig Meierotto wurde 1775 Rektor. Meierotto war zwischen 1760 und 1762 selbst Schüler des Joachimsthalschen Gymnasiums gewesen und Sulzer dürfte den »Lieblinge des Dr. Heinius« bereits in dieser Zeit gekannt und unterrichtet haben. 1771 wurde Meierotto auf Vermittlung Sulzers zum Professor der Beredsamkeit ans Joachimsthalsche Gymnasium berufen. Vermutlich rührte da Müllers Vorwurf her. Meierotto bearbeitete in den Jahren 1780–82 auch Sulzers Vorübungen zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens und gab diese neu heraus. Vgl. Brunn (Hrsg.) Lebensbeschreibung Meierottos 1802.
von dem Minister
Der Staats- und Justizminister Karl Abraham von Zedlitz hatte Meierotto die Stelle persönlich angetragen.
wie Göze in Hamburg
Johann Melchior Goeze, der Gegenspieler Lessings im Fragmentenstreit.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann