Brief vom 1. März 1775, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 1. März 1775

den 1. Merz 1775.

Möge, mein theuerster, der Lenz, dem wir mit der sehnsucht der Verliebten entgegen sehen, uns nicht betrügen uti quibus mentitur amica. In ihrem Briefe ist weder Winter noch Krankheit.

Sie haben mir durch ihre Theorie alle poetischen und critischen problemen vor dem Munde weggenommen. Aber sie ist für mich zu späte gekommen als daß ich sie, wie ich wollte, benuzen könnte. In dem Artikel, natürlich, hab ich doch einen Hauptfehler in meinen Dramen bemerket, den ich mich nicht reuen lasse, quem deprecari, quem non admisisse malim, ich habe personen in ihrer kräftigen Natur geschildert, ich blieb nicht bey der Natur wie sie sich izt unter uns zeigt. Ich bin nicht von dieser Welt, würde der Kämmerling von Küßnach in seinem Heiligen Idiome sagen. Nicolais freuden des Wehrters haben mich freilich ganz mit ihm ausgesöhnt; wie Füßlis Ode Sie mit diesem capiti heteroclito. Haben diese leute darum so wenig besorgnisse uns übles von ihnen zu denken zu geben, weil sie sich bewust sind daß sie mit einer strophe oder einem pamphlet jeden schlimmen Eindruk bey uns auslöschen können? Als ich unsern Husar, Orell beym Abschied küste, bat ich ihn Nicolai zu sagen, daß ich mich mit Wehrters Freuden gefreut habe, und daß ich Ihn liebete.

Ich hoffe daß wir Hartmann zu obigen beyden stellen können. Es ist ein gutes Zeichen daß Ihre Vorwürfe ihn niedergeschlagen haben. Ich sah ihn auch einmal besorgt daß ich ihn weniger liebte.

Ich wollte in Ramlers Schachspiel nachsehen, ob ich ihm unrecht gethan habe; denn ich vermuthe daß ich mir mit meinem Urtheil von demselben Nicolais Unwillen zugezogen habe. Ich habe ein zartes critisches gewissen.

Weder Wieland noch Klopstok bekümmern sich ob sie uns ursache geben von ihnen gut oder übel zu denken. Klopstok hat keine geschworne freunde hier mehr; und Wieland hat nie gehabt. Ich zweifle, wenn Klopstoks hohe person wieder nach Zürch käme, daß er uns zum zweiten mal in Enthusiasme sezete.

Wieland soll blike auf eine hohe person geworfen haben; erinnern sie sich, da er noch in eine schüssel mit mir tunkete, daß meine dienstmagd, eine junge Drolle, ansprache auf sein herz machete. Er hatt ihr gesagt daß in hohen und niedern homogenisches blut flösse. Sie ward vor liebe gegen den Faun zur Närrin. Er verriegelte jede nacht sein schlafzimmer und legte seinen rostigen degen, entblöst, auf die bettdeke, wenn sie auf ihn einbrechen und ihn nothzwengen wollte, sich zu schüzen. Ich hätte für die keuschheit dieses Josephus geschworen, wie Hudibras for dame religion,

Whose Honesty they all durst swear for
Tho' not a man of them knew wherefor.

Wieland und Jacobi hatten sich über den Gewinn mit dem Mercur entzweit, aber hohe mediatores haben sie wider vereinigt. Jacobis Iris machet die magister zu androgynen, wie Herders älteste Urkunde die theologen zu Pordätschen.

Sollte doctor Hirzel in seinem philosophischen Kaufman nicht den Einwurf beantwortet haben: [→]un corps de magistrature souveraine etant etabli chez nouz le pere se hate d'y placer son fils avant d'avoir achevé l'edifice de sa fortune. Une ambition destructive fait que le marchand ne reste dans son etat que par forçe. Le negotiant n'estime pas assez son etat, tous les jours humilié par la superiorité d'un autre. Ist dieses nicht so richtig als, daß es den Wissenschaften nicht zuträglich ist, wenn lehrer auf hohen schulen noch andere Würden erhalten?

Die Lemgoer bibliothek hat Hallers Alfred keine Unze gesunder politik übrig gelassen. Aber auch Voltaire hat eine Zuffa mit Hallern angefangen, und ein pamphlet von diesem ist unterweges.

Mit welcher gottseligkeit eifert Basedow Menschen zu Künstler, lateinische Basedovios und feige Unterthanen! Man wird in seinem Basedoviano eine einseitige Schülerwendung bekommen. Welcher Vater seinen sohn so lange Zeit von sich läst, soll sich nicht klagen, wenn dieser ihn und seine Familie und alle kindlichen Affektionen aus dem herzen verliert.

Die Briefe über die Gelehrsamkeit der Wiener sind lauter bonsens. Der Verf. ist gewiß ein schweizer wiewol wir ihn noch nicht ausgeforschet haben.

Göthen schreibt eine Ehrenrettung gegen die Freuden des jungen Wehrters. Die berichtigte geschicht Wehrters ist nullius usus et ponderis.

In der Gazette von Carlsruh steht daß die damen in Zürch sich in schleyer und die herren in Dominos mit Capuchons verhüllen, damit sie Lavaters physiognomik entgehen. Die Capuchons nenne man Antilavater.

Sehn sie in dem gedrukten Blatt welche Unterstüzung die Kunst von unserm Reichthum empfängt. Aber in der zeit daß die Kunst zunimmt, leiden die sitten.

Als jüngst die weltlichen Herren des stifts mit den geistlichen in collision kamen, half ich für diese entscheiden. Es betraf die diaconatswahl zum silberschild. Sehen sie, wie ich Ihnen in der schlafmüze schreibe. Rächen sie sich und schreiben mir daß sie mit Lambert à la mata gespielt, oder mit Nicolai Knaster geraucht haben. Ich habe Neugier für ihre alltäglichsten geschäfte und gedanken.

[→]Et vos moindres discours, et vos moindres pensées.

Was rathen sie mir, soll ich mir selbst verbergen daß fustian ist:

[→] In festlichem schmuk schwebt und trägt Halm' in der Hand,
Und des Weins Laub die geflügelt Jungfrau! –

und Elend:

Sieh des schattenden Walds Wipfel! sie neigen sich
Vor dem kommenden Hauch lauer lüfte. – Nein,
Friederich kömmt in die schatten;
Darum neigen die Wipfel sich.

Soll es Neid seyn, daß ich denken darf, es sey fustian und Elend?

Ich umarme Sie.

Ihr Bo.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Eigenhändige Korrekturen

wenn Klopstoks hohe person
wenn seinKlopstoks⌉ hohe person

Stellenkommentar

uti quibus mentitur amica.
Hor. epist. I, 1, 20: »ut nox longa quibus mentitur amica diesque«. Übers.: »wie die Nacht denen lang vorkommt, die die Geliebte versetzt hat«. (Horaz, Buch 1 der Briefe, 2018, S. 447).
Artikel, natürlich
Nicht klar, welche Stelle in dem Artikel Bodmer hier meint, eventuell folgende: »Darum erfodert das Drama, vornehmlich die höchste Natur sowol in der Handlung selbst, als in der Vorstellung, da der geringste unnatürliche Umstand alles so leicht verderbt.« (Sulzer, AT, Bd. 2, 1774, S. 813).
capiti heteroclito
Übers.: »sonderbaren, seltsamen Kopf«.
unsern Husar, Orell
Johann Ulrich von Orelli, Leutnant bei den Ziethenschen Husaren.
wie Hudibras
Vgl. S. Butler, Hudibras, 1720, S. 1. Hier zitiert nach Bodmers Exemplar (ZB, Sign. 25.182).
Wieland und Jacobi
Friedrich Jacobi hatte Wieland in einem Schreiben vom 10. August 1772 dazu angeregt, ein Journal wie »der Mercur de France« herauszugeben. Dabei war es bereits über den Titel Der Teutsche Merkur zwischen Jacobi und Wieland zum Streit gekommen. Vgl. Heinz Auf dem Weg zur Kulturzeitschrift. Die ersten Jahrgänge von Wielands »Teutschem Merkur« 2003, S. 374–379.
die theologen zu Pordätschen
Der englische Arzt und mystische Philosoph John Pordage, der im Anschluss an Jakob Böhme eine Metaphysik der göttlichen Dinge entwickelte. Sein Hauptwerk erschien 1715 unter dem Titel Göttliche und Wahre Metaphysica, Oder Wunderbare, durch Erfahrung erlangte Wissenschafft der Ewigen und unsichtbaren Dinge in deutscher Übersetzung.
un corps
Übers.: »Da ein Organ des souveränen Staatsamts bei uns eingerichtet ist, eilt der Vater, seinen Sohn dort einzusetzen, noch bevor er sein Vermögen endgültig aufgerichtet hat. Ein zerstörerischer Ehrgeiz bewirkt, dass der Händler nur zwangsläufig in seinem Stand bleibt. Der Händler schätzt seinen Stand nicht genug, weil er jeden Tag durch die Überlegenheit eines andern erniedrigt wird.«
Lemgoer bibliothek
Vgl. die anonyme Rezension von Hallers Alfred König der Angelsachsen. In: Lemgoische Bibliothek, Bd. 6, 1774, S. 93–104.
ein pamphlet von diesem
Gemeint ist Hallers Kritik an Voltaire in: Briefe über einige Einwürfe nochlebender Freygeister wider die Offenbarung, Bd. 1, 1775.
Briefe über die Gelehrsamkeit der Wiener
[J. T. Sattler], Freymüthige Briefe an Herrn Grafen von V. über den gegenwärtigen Zustand der Gelehrsamkeit der Universität und der Schulen zu Wien, 1774. Sattler wurde in Suhl (damals im Fränkischen Reichskreis) geboren.
Göthen schreibt eine Ehrenrettung
Goethes Die Leiden des jungen Werther an Nicolai und Herr Nicolai auf Werthers Grabe von 1775. Bodmers Lektüre von Goethes Werther, den ihm Lavater zu lesen gegeben hatte, fiel in die Monate November/Dezember 1774. Vgl. dazu Hurlebusch Der junge Goethe über den alten Bodmer 1993.
In der Gazette von Carlsruh steht
Vgl. Carlsruher Wochenblatt, 15. Dezember 1774, Nr. 50. Hier findet sich eine längere Abhandlung zu Lavaters für 1775 angekündigten Physiognomischen Fragmenten. Von einer Verhüllung der Zürcher und Zürcherinnen steht darin allerdings nichts. Bodmers Quelle konnte nicht ermittelt werden.
in der schlafmüze
Vgl. Brief letter-sb-1774-11-19.html.
Et vos moindres
Übers.: »und ihre kleinsten Reden, und ihre kleinsten Gedanken«.
In festlichem schmuk
Verse aus Klopstocks Oden Die Gestirne und Friedensburg.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann