Brief 22. – 24. Januar 1775, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 22. – 24. Januar 1775

Zürch den 22 Jan. 1775.

Das Zeitalter von bley drükt uns beyde gleich und wir drüken dasselbe:

[→]Saturnumque gravem nostro Iove frangimus una.

Wir sind doch gutherzig, daß wir leute, die wir aus so ehrlichen gesinnungen verachten, zum Inhalt unserer freundschaftlichen briefe machen. Wie eitel oratio de me ipso seyn mag, so erlauben sie mir gern, Sie lieber mit meiner person als mit dunsen zu unterhalten. Neque is sum qui quid sim, nesciam, et qui non eos magis qui me despiciunt invidos, quam eos qui laudant assentatores arbitrer. Also hab ich kein Bedenken Ihnen, mein theurester, die Ode zu zeigen die ich aus Rom empfangen habe. Ich bin doch demüthig genug zu denken, poetam in me commendando propriam ingenii gloriam quæsivisse.

Ich bin mit meinem Genie nicht unzufrieden, daß er weder gegen Einbildungskraft noch gegen Empfindungen stürmisch daherrauschet. Er würde lieber gegen geheiligte Übelthäter einherstürmen; und verachtet auf kleine verächtliche gegenstände zu fallen. Diese sind für Gleim und Jacobi; [→]dont le feu s'evapore dans le tourbillon du monde, ils mettent une trop grande importançe à des jouets, des fatuités. Jacobis Iris ist zum Ekeln süsse,

[→]ego liba recuso,
Pane egeo iam mellitis potiore placentis.

Ich halte für ein gutes Zeichen, daß man in meinen Dramen gewisse Gedanken und Ausdrüke für unteutsch hält; weil die Teutschen nicht Cassius noch Brutus sind. Und hier kömmt mir in den sinn daß Julia weniger Mühe gehabt haben mag gegen Antonius in Raptum zu kommen, als der Antiquarius gegen die bildsäule des Apollo.

Haben Sie, mein liebster, sich keine Mühe gegeben, ein Exemplar von Ramlers Epopöe, Schachspiel, aufzutreiben, welches er so gern in den Orcus begraben wollte?

War es pudor malus, daß ich Ihnen verschwiegen, daß ich die Ilias übersezt habe. Wenn die sechs gesänge in der Calliope Ihnen so elend geschienen als den Jurnalisten, so wird Ihnen für meine poetische Ehre bange werden. Und mit recht, wenn sie eine Asiatische übersezung fodern, wie Popes ist. Ich habe das manuscript Hartman versprochen, und er nöthigt mich es ihm zu geben. Aber ich bin verlegen, wie ich es ihm mit sicherheit zufertige. Ich habe noch keine nachricht, daß er einen Pak, den ich Reichen übergeben an Ihn zu bestellen, erhalten habe. Und es dünkt mich daß er Mangel an Verlegern habe. Es fängt an mir für ihn bange zu werden. Ich hatte erwartet, daß Koppe mehr savoir vivre haben würde, aber Hartman selbst schildert ihn als ein anakreontisches Herrchen.

Wegman wird immer noch von fiebrischen Anstössen erschüttert. Ihre Theorie ist in seinem Zimmer seine schönste, liebste, Gesellschaft. Es ist wol gedacht, daß ich den Zweiten Band der Theorie Meistern geben solle, aber wo soll er den ersten hernehmen? Ich fragte sie, ob sie nicht denselben zweiten Band mit nachsendung des Ersten Completiren könnten. (Sehet beyblatt.)

Ist Wahrheit in dem gerüchte, daß Einer sich für den leibhaften Urheber der Ossianischen Gedichte gegeben hat? Er müste mir seine poetische Existenz durch einen Zweiten Fingal beweisen. Zwar hab ich scrupel gegen das Alterthum derselben; zum Exempel die sitten in Lochlin dünken mich nicht runisch, nicht scaldisch. Wir haben da weder Klopstoks Braga noch Hela.

Werden Sie mich nicht der ramlerischen Weichlichkeit beschuldigen, wenn sie hören, daß ich einen bogen Verbesserungen zur Noachide gedrukt habe? Es sind doch mehr als verfeinerungen des Hexameters. Noch hab ich in meinem Pult einen mir sehr wichtigen Zusaz. Ich lasse Lamech aus der sonne auf die Erde herabsteigen die neugebohrne Aussaat des Menschengeschlechts zu grüssen.

Einige der unsern halten für gewiß daß Klopstok durch den Wundermann in der Gelehrten Republik, der mit den Kälbern der Ausländer pflügt, und in jeden Kälberstall gehet, Wielanden gemeint habe. Klopstok habe, sagt man, eine unbeschreibliche Eifersucht auf Wieland.

Breitinger und Steinbrüchel finden in dem gespräche, Sokrates in Abrahams Schoosse, weniger Genie und Wiz, als ich finde; sie scheinen das stük zu verachten; hier ist es verboten.

In Frankfurt ist das wörterbuch unserer neuen bibel nachgedrukt, man sagt durch Lavaters veranstaltung. Lavater getraut sich nicht nur zu wissen, was für ein gemüth gewisse gesichtszüge bezeichnen, sondern auch was für lineamente ein Mensch den der geschichtschreiber schildert, z. Ex. Judas Iscarioth, Catilina – gehabt habe.

Er ist Pfenningers Orakel, Pfenninger sein Anbeter. Diser ist verheurathet, und schleppt sich durch; übrigens bis auf logik ein guter Mensch.

Dr. Hirzel hat das Ideal eines philosophischen Kaufmanns geschrieben. Sein sohn, den Escher, mein Neveu, nicht hat brauchen können, soll der Körper zu diesem Ideal werden. Hab ich nicht ursache zu fürchten, daß die Kaufmannschaft an und für sich selbst, ohne den Mißbrauch, den sitten gefährlich sey? Hr. Escher hat geglaubt daß sie zu uns kommen würden, und mich stark sollicitirt, daß ich Ihnen sein Haus, seinen tisch p. frey und frank anerbiethen solle. Es ist nicht leere höflichkeit; er hat keine Kinder, und kan sie wol logiren und wol bewirthen. Er hat für sie eine unbegränzte Hochachtung. Sein haus, d. Wollenhof, ist von ihm nicht nur logeable sondern schön gemacht, und seine frau ist keine ängstliche Hauswirthin.

Ich habe einen Gedanken den ich in kurzer Zeit zu bewerkstelligen glaube, meinen professorat zu resigniren, wiewol ich allezeit noch lectionen gebe; aber ich bin conviva satur.

Einer der unsern glaubt, man könnte eine feine satyre schreiben nach der Idee: Herders älteste offenbarung mit parallelstellen aus Jacob Böhmen, Aurora aufgeklärt.

Ich hatte vor drey jahren einen Correspondent in Dreßden, Karl Matthäi, hofmeister bey dem Baron von Friesen, könnten sie durch Hrn. Grafen nicht innen werden, ob Er noch in Dreßden sey, ob er vielleicht auf Reisen ist.

Wer ist der Verfasser des stüks: Sokrates in Abrahams Schoosse?

den 24ten Jan. 1775

Ist es mir Ehre, daß man mir weissagt, ich werde in Zürch nach dem Tode mehr geschäzt werden. Es scheint beschuldigung, daß ich die Kunst nicht gewust, mich der gemüther zu bemächtigen, und ich gestehe dises gern.

Man hat mich bewegen wollen, ein Ideal zu schreiben, wie wir bessere sitten, und mehr sicherheit, persönliche, und des Eigenthums, in unsern staat bringen könnten; aber durch geseze und mittel die zu unserer sinnesart und unserm gemüthe passeten. Ich antwortete; zu diesen wäre gerade die Constitution, die wir haben, die angemessenste. Jede andere würde nicht für uns noch wir für sie taugen, oder wir müsten uns verwandeln.

Das Neujahrstük von der stadtbibliothek, von Hr. Rathshr. Hirzel, des Doctors Bruder verfertiget, hat zum Stof den Klosterbruch von Roschach, es ist ein feigherziger locus de non resistendo, eine Predigt der Biegung unter die gewaltthätigkeit, ein Invectif gegen die stadt Santgallen, als eine aufrührerin. Unser Wegelin kann ihnen sagen, daß dieses der schönste periodus der Stadt gewesen. Die Schirmorte handelten izt gegen die vorigen Grundsäze in ihrem eigenen betragen da sie die Östreichische Herrschaft von sich schüttelten. Sie sollen das stük sehen.

Der gute professor Meister ist erbärmlich krank an der Arthritis; sein verlust würde mir viel Vergnügen rauben. Wenn er doch stürbe, so würde [→]Schinz seinen Posten erhalten, der brüder Einer der Schinzin in Klopstoks Ode auf den Zürchersee; der vorigen sommer mit Hrn. director Schultheß sohn die Reise nach Rom und Napoli gemacht hat, qui non solum Urbes sed etiam Mores vidit.

Ich habe diese tage viel umgang mit Lambert gehabt; ich las s. cosmologischen briefe, und flog mit ihm über den sirius und den milchweg hinaus. Hier ist poesie des schöpfens; des Verstandes und nicht des gehirnes.

Können Sie folgendes Epigramme verwerfen:

Kästner glaubte nicht sehr an die menschliche Tugend, der sagte:
Ehrneid hab Aristiden und Themistoklen entzweyet;
Luthern und Eken; Perrault und Boileau; Bodmern und Gottsched.

Ich umarme Sie innigst.

Bodmer

Überlieferung

H: ZB, Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

A Monsieur Soulzer professeur et de l'academien royale – Berlin fr. Nurnberg.

Vermerke und Zusätze

Siegelreste.

Eigenhändige Korrekturen

handelten izt gegen die vorigen Grundsäze
handelten ⌈izt⌉ gegen die ⌈vorigen⌉ Grundsäze
Schinz seinen Posten
Schinz ihr seinen Posten

Stellenkommentar

saturnumque gravem
Pers. saturae V, 50. Übers.: »Sei's, dass das Dräuen Saturns mit Jupiters Hilfe wir brechen.« (Persius, Satiren, 1950, S. 53).
dont le feu
Übers.: »dessen Feuer im Weltwirbel verdunstet, sie legen Spielzeugen, Selbstgefälligkeiten zu viel Bedeutung bei.«
Jacobis Iris
J. G. Jacobi (Hg.), Iris. Vierteljahresschrift für Frauenzimmer, 1774–1776.
ego liba recusa [...] placentis
Hor. epist. I, 10, 10 f. Übers.: »und wie der entlaufene Sklave eines Priesters weise ich die Opferkuchen zurück;« (Horaz, Buch 1 der Briefe, 2018, S. 479).
Antiquarius
Johann Joachim Winckelmann.
pudor malus
Übers.: »Falsche Scham«.
sechs gesänge in der Calliope
J. J. Bodmer, Calliope, Bd. 2, 1767, S. 157–306.
daß Koppe mehr savoir vivre
Johann Benjamin Koppe, der seit 1774 eine Professur für griechische Sprache an der Academia Petrina in Mitau innehatte. 1775 wurde er Professor in Göttingen. Vgl. Hartmanns Brief an Bodmer vom 17. November 1774, in dem er über seine Kollegen schreibt, darunter: »Koppe, ein Grieche – sonst aber so süß im Umgang, wie Jacobi. [...] Küsst er mich, so drückt er mich halb zu tode; ein süsser junger Herr.« (ZB, Ms Bodmer 2a.4).
Urheber der Ossianischen Gedichte
James Macpherson.
einen bogen Verbesserungen
Nicht ermittelt.
daß Klopstok durch den Wundermann
Vgl. F. G. Klopstock, Deutsche Gelehrtenrepublik, 1774, S. 165: »Es war einmal ein Mann, der viel ausländische Schriften las, und selbst Bücher schrieb. Er ging auf den Krücken der Ausländer, ritt bald auf ihren Rossen, bald auf ihren Rossinanten, pflügte mit ihren Kälbern, tanzte ihren Seiltanz. Viele seiner gutherzigen und unbelesenen Landsleute hielten ihn für einen rechten Wundermann. Doch etlichen entging's nicht, wie es mit des Mannes Schriften eigentlich zusammenhinge; aber überall kamen sie ihm gleichwol nicht auf die Spur. Und wie konten sie auch? Es war ja unmöglich in jeden Kälberstall der Ausländer zu gehen.«
in dem gespräche
Anonym, Abraham, Paulus, Töllner, und im Schoos Abrahams Socrates: Ein Gespräch, 1774.
das wörterbuch unserer neuen bibel nachgedrukt
Ein Separatdruck des von Johann Jakob Hess, Lavater und Tobler verfassten Registers erschien 1774 in Frankfurt am Main unter dem Titel Biblisches Realwörterbuch, verfertiget von den dermaligen Gottesgelehrten der Stadt Zürich.
lineamente ein Mensch den der geschichtschreiber schildert
Vgl. J. C. Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, 1775, S. 80–83, 118.
Hirzel hat das Ideal eines philosophischen Kaufmanns geschrieben
H. C. Hirzel, Der philosophische Kaufmann. Von dem Verfasser des philosophischen Bauers, 1775.
Sein sohn
Vgl. Brief letter-bs-1773-07-24.html.
professorat zu resigniren
Bodmer gab seine Stelle als Professor für Vaterländische Geschichte am Carolinum 1775 auf.
conviva satur
Hor. s. I, 119. Übers.: »zufrieden nach Vollendung«. (Horaz, Buch 1 der Satiren, 2018, S. 49).
Einer der unsern
Nicht ermittelt.
vor drey jahren einen Correspondent in Dreßden, Karl Matthäi
Von dem Ästhetiker, Erzieher und Hofmeister Karl Johann Michael Matthaei, der u. a. auch mit Lavater und Johann Jakob Hess korrespondierte, sind neun Briefe an Bodmer in der ZB überliefert, der erste datiert im November 1768, der letzte im März 1779. Matthaei hielt sich nach der Zeit in Dresden mit dem von ihm unterrichteten jungen Baron in Braunschweig, Wittenberg und Leipzig auf. Ab 1778 lebte er mit einem neuen Zögling in Straßburg. 1766 hatte Matthaei Sulzer persönlich (vermutlich in Leipzig) getroffen, wie ein Eintrag Sulzers in Matthaeis Stammbuch (GSA 96/821, Bl. 195) zeigt.
Neujahrstük von der stadtbibliothek
S. Hirzel, Der Klosterbruch von Rorschach 1489, 1775. Der »Rorschacher Klosterbruch« bezeichnet die Zerstörung der sich im Bau befindenden, oberhalb von Rorschach gelegenen Klosteranlage Mariaberg am 28. Juli 1489 durch Stadt-St. Galler, Appenzeller und Rheintaler.
Schinz seinen Posten erhalten
Der Theologe Johann Rudolf Schinz (1745–1790) war ab 1778 Pfarrer in Uetikon und ein Vertrauter Bodmers, dem er in dem Nachruf Was Bodmer seinem Zürich gewesen ein Denkmal setzte. Schinz war Physiokrat und setzte sich mit landwirtschaftlichen Fragen in verschiedenen Artikeln und Rezensionen auseinander. Seine Reise durch Italien im Jahr 1774 ist in einem Tagebuch dokumentiert, aus dem Johann Nüscheler in seiner Gedenkrede auf Schinz zitiert. Vgl. J. Nüscheler, Denkmal auf Herrn Hs. Rudolf Schinz, gewesenen Pfarrer zu Uetikon, 1791.
Schinzin in Klopstoks Ode auf den Zürchersee
Anna Maria Schinz.
folgendes Epigramme
Bodmer wurde von Abraham Gotthelf Kästner mehrfach in Epigrammen angegriffen. Dieses von ihm verfasste dürfte eine Reaktion darauf sein. Vgl. auch Brief letter-bs-1755-05-24.html.
Eken
Johannes Eck.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann