Brief vom 4. Dezember 1772, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 4. Dezember 1772

Ich bekomme ihren lezten Brief nur einige Stunden nach dem, der Ihnen von mir durch Hrn. Irminger den Freünd unsers Pr. Müllers zukommen wird. Nichts könnte mir erwünschter seyn, als ihr freündschaftlicher Vorsaz von den ruhigen Stunden ihres hohen Alters von Zeit zu Zeit mir eine zu schenken. Würklich sind die Tage an denen ich ihre so freündschaftliche, so offenherzige und in allen Absichten so schäzbare Briefe lese, die angenehmsten, die ich genieße. Sie sind mein Nestor, deßen Worte mehr gelten, als die Reden einer ganzen Versammlung jüngerer Männer.

Sie müßen critische Blätter haben, die ich nicht zu sehen bekommen; denn von allem critischen Geschwäze über meine Theorie und über Cymbelline, davon Sie mir schreiben, hab ich nichts gelesen. Ich bin auch nicht begierig danach; denn ob ich gleich diese Kunstrichter nicht fürchte; mag ich doch ihr schreyen nicht gern hören. Auch von einem Zahnlosen Hund mag ich nicht angebellet werden. Wenn Sie den Cymbelline verwerffen, so will auch ich ihn verleügnen; obgleich verschiedene meiner hiesigen Freünde, die gewiß Männer sind, als ich ihn ihnen vorgelesen sehr damit zufrieden waren. Es ist allerdings in dem Geschmak noch viel, worüber man nicht streiten kann. Warum nennen Sie mir den braven Man in Schwaben nicht, der sich troz des Geschreyes, das die Sachsen gegen Sie erheben, stark genug fühlt, Sie zu neüen Arbeiten zu ermuntern? Auch ich hatte Lust Ihnen noch etwas aufzutragen. Es bestünde darin, daß Sie mir miscellanea critica, so wie sie Ihnen einfielen überschrieben, von denen ich im zweyten Theil meines Werks gelegentlich Gebrauch machen könnte. Gewiße Dinge, die Ihnen vorzüglich am Herzen liegen; denn man hat überall Gelegenheit dergleichen Dinge anzubringen. Allerdings hat sich die Ausgabe des 2tn Theiles um 6 Monat verzögert. Ich habe noch 23 deßelben ins reine zu bringen, und erst seit 5 oder 6 Tagen diese Arbeit wieder vorgenommen, ob ich sie gleich nicht mit anhaltendem Fleis betreiben kann. Denn ich bin noch nicht gesund, und es ist sogar ungewiß, ob ich es jemals wieder seyn werde, da es das Ansehen hat, daß die Lungen bey mir mit einer unheilbaren Fäulniß angegriffen sind. Dieses erinnert mich keine Zeit zu verliehren mein Werk fertig zu machen. Aber ich kan izt nur langsam arbeiten. Doch denke ich, daß auch die Hälffte der Lungen noch hinreichen soll mir den Athem so lange zu erhalten, als zu dieser Arbeit nöthig ist. Man sagt Heilman will mein Werk auch nachdruken. Er betrügt oder übersezt das Publicum doch noch, wenn er den goldenen Spiegel um 13 wolfeiler giebt, als Reich, der das Manusript sehr Theüer gekaufft hat. Ich denke von dem Buch wie Sie, und habe nicht gern gute Sachen in einer poßirlichen Einkleidung. Mit dem ernsthaften darin bin ich sehr zufrieden. Prof. ist sehr voll Freüde über sein wiedererlangtes Bürgerrecht. Um ihren Adelbert nicht noch einmal zu vergeßen, wann die Gelegenheit kommt ihn wieder zu schiken, soll er so gleich zur Versendung zurechte gemacht werden.

Den Frat. Gerund. kenne ich blos aus einer Recension. Es ist doch eine merkwürdige Erscheinung, wenn das Buch würklich aus Spanien kommt.

Ich habe vielleicht über den wahren elementar Unterricht der Jugend so viel gedacht, als Basedow, ob ich gleich wenig davon geschrieben habe, und ich wünschte wol meinen Lauff damit zu beschließen, oder viel mehr zu vollenden, daß mir die Einrichtung einer Schule für eine Jugend, die künftig gelehrt und ungelehrt seyn sollte, aufgetragen würde.

Der Mangel des Raums nöthiget mich diesmal es genug seyn zu laßen. Ich umarme Sie von Herzen.

JGSulzer

den 4 Decemb. 72.

Man will hier Nachricht haben, daß der K. von Schweden sich des ganzen Königr. Norwegen bemächtiget habe.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

Herrn Profeßor Bodmer in Zürich

Stellenkommentar

Hrn. Irminger
Vermutlich der Geistliche Ulrich Irminger.
von allem critischen Geschwäze
U. a. hatte Goethe Cymbelline in einer Rezension verrissen und prognostiziert, dass es jeder Leser »mit Verachtung aus der Hand werfen wird«. Vgl. [J. W. Goethe], Cymbelline (Rez.). In: Frankfurter Gelehrte Anzeigen, 15. September 1772, Nr. 74, S. 591 f.
sehr damit zufrieden
So äußerte sich Zimmermann in einem Brief vom 5. August 1772 an Sulzer positiv über Cymbelline: »Cimbelline, ach, Cimbelline, ist ein Stück von einer unendlich edlen Einfalt, und einem Pathos, dergleichen ich nie gesehen, nie gefühlt und nie gedacht habe.« (LBH, Ms-XLII-1933-A-I-93).
Lungen bey mir
Vgl. auch Sulzer an Hirzel, 1. Dezember 1772: »Aber ich habe noch eine Menge faule und stinkende Materie in der Brust, die doch, wie es scheinet, den Lungen selbst keinen Schaden thut, und die halbe Nacht muß ich mit Husten zubringen. Gott weiß, wie lange dieses noch dauern, oder was für ein Ende es nehmen wird.« (ZB, FA Hirzel 237).
Heilman will mein Werk auch nachdruken
Johann Christoph Heilmann, der seit 1732 in Biel als Verleger und Drucker tätig war. Der Bieler Nachdruck von Sulzers AT erschien 1777. Wie viele Autoren der Zeit hatte auch Sulzer mit Raubdrucken bzw. illegalen Nachdrucken seines Werkes zu kämpfen. In einem Brief an Zimmermann klagte er darüber: »Ich habe den Verdruß, daß der Edle von Trattner einen unedlen Streich an meinem Verleger und mir ausübet, da er meine Theorie der S.K. nachdrukt. Dadurch thut er dem ehrlichen Reich nicht nur den Schaden, daß er ihm den ihm gebührenden Gewinn entziehet, sondern vielleicht gar in würklichen Verlust sezet. Reich hatte ein kayserl. Privileg, woran man sich aber in Wien nicht gebunden hält.« (Berlin, 13. Mai 1772, LBH, Ms XLII 1933 AII 93).
Prof. ist
Christoph Heinrich Müller.
Frat. Gerund.
Frater (Bruder) Gerundio. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1772-11-24.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann