Brief vom 1. Dezember 1772, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 1. Dezember 1772

Sie müßen es mir vergeben, mein Verehrungswürdiger Freünd, daß ich so lang gewartet habe ihren lezten Brief zu beantworten. Ich erfahre erst izt, wie gefährlich meine Krankheit gewesen, da es so sehr schweer fält den Rest davon zu vertreiben. Noch bin ich immer unter den Händen des Arztes und unter der Herrschaft der Arzneyen, und habe keine Hoffnung in Kurzem davon befreyt zu werden. Aber das dem Leben drohende Fieber ist doch völlig bezwungen und ich fange an mich wieder mit meinem Werk zu beschäftigen, deßen End ich so gerne zu sehen wünschte. Meine Krankheit hat mich gelehrt, daß ich in dem hiesigen Publico weit mehr Freünde und Gönner habe, als ich gewußt hatte. Niemand aber hat sich so würksam bezeiget mir meine Krankheit zu erleichtern, als unsre Prinzeßin Amalia, des Königs Schwester, die die ganze Zeit über, da ich allein von Früchten leben mußte, mich reichlich mit den besten und seltensten Früchten aus den Gärten von Sans-Souci versehen hat. Unser Profeßor Müller hat sich als ein völlig bewährter Freünd gegen mich gezeiget. Seine Wiedereinsezung in das verlohrne Bürgerrecht hat uns großes Vergnügen gemacht. Vor drey Wochen hat meine Tochter, die sich hier befindet, mich durch ein artiges Mädchen zum Großvater gemacht. Dieses sind die Neüigkeiten, die ich von mir Ihnen zu melden hatte.

Um den Lauff der großen Welthändel hab ich mich während meiner Krankheit wenig bekümmert, und denke auch izt nur mit Verdruß daran. Die gegenwärtige Zeit scheinet mir von Krieg und schweeren Unruhen schwanger, und unser philosophisches Jahrhundert scheinet mir eine sehr unphilosophische Zukunfft vorzubereiten. Wann ihnen Meister gesagt hat, daß ein La Grange Verfaßer des Système de la Nat. ist, so hat er es, glaub ich gethan, um den Schimpf von dem wahren Verfaßer, für den wir noch immer den Helvetius halten, abzulehnen. Wieland hat seine Subscrip. auf den Agathon nicht zustande gebracht und nun aufgegeben. Riedel ist höfflich und mit einem Geschenk von 1000 Ducaten von Wien verabschiedet worden. Dieses wird mir von Wien geschrieben. Das Lied über den Patroklus beweißt mir, daß ihr Geist noch die Lebhaftigkeit ihrer besten Jahre habe: nur die Prosodie deßelben kann nicht bestehen. Sie sagen mir nichts von der kurzen Geschichte der Menschen, die Sie für ihre dortige Jugend sollen geschrieben haben? Ich wünschte wol, daß Sie für alle Eidgenoßen, ihr politisches Testament aufsezten. Arnold von Brescia und Brun könnten als ein Anfang dazu kommen. Sie können meine Mitwürkung zu ihren verbeßerten Schulanstallten nicht mit größerer Begierde verlangen, als ich hätte, sie Ihnen anzubiethen, wenn die Sache auszuführen wäre. Denn ähnliche Arbeiten, die ich für dieses Land übernommen habe, sind ein bloßer Zeit Verlust für mich, und eben so viel, als wenn ich Dornen zu Hohen Bäumen ziehen wollte. Es ist mir zwahr während meiner Krankheit ins Ohr gesagt worden, daß eine Zeit kommen werde, da ich etwas nüzliches würde thun können. Aber ich fühle mehr Neigung in diesem Land unthätig und ein bloßer Zuschauer zu seyn. Leben Sie wol, mein theürester; ich umarme Sie von Herzen.

JGSulzer

den 1 December 72.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Prof. Bodmer.

Eigenhändige Korrekturen

Vor drey Wochen
Se Vor drey Wochen

Stellenkommentar

durch ein artiges Mädchen zum Großvater
Sulzers Enkelin Johanna Catharina Henrietta war am 16. November 1772 geboren worden, starb allerdings kurze Zeit später.
Verfaßer des Système de la Nat.
Der anonyme Verfasser D'Holbach blieb zunächst von den Zeitgenossen unentdeckt.
von Wien geschrieben
Nicht ermittelt.
von der kurzen Geschichte der Menschen
Vermutlich [J. J. Bodmer], Der neue Adam. In: Schweizer Journal, 1771, St. 6.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann