Brief vom 2. Dezember 1769, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 2. Dezember 1769

Sie hätten gewiß keinen Schönern Sieg über Klozen und seine Rotte erhalten können, mein theürester Freünd, als der ist, den Ihnen die neüe politische Trauerspiele, ohne Schwerdtschlag geben. Sie haben mich außerordentlich vergnügt, besonders die Griechischen. Hätte es Ihnen gefallen, ihre Personen auf einen nur um etwas höheren Cothurn zustellen, so müßte man Sie unmittelbar Neben den Sophokles sezen. Ich verlange den Höheren Cothurn nicht darum daß er meine Sinnen angreiffen soll, die Sache selbst rührt mich hinlänglich. Aber Personen, die in einem hohen pathetischen Ton sprechen, müßen schon, ehe ich den Inhalt ihrer Rede vernehme, durch ihr äußerliches merken laßen, daß der Ton ihnen und der Sache so, wie er ist, zukomme. Aus diesem Grunde halte ich dafür, daß das Trauerspiel eben so nothwendig die gebundene Rede erfodert, als die Vorstellung Personen von gewißem Hohen Ansehen und Kleider, die nicht die Häuslichen Kleider sind erfodert. Dieses, was ich den Höheren Cothurn nenne, macht manches natürlich, was den gemein gekleideten Menschen, nicht so läßt. Izt sehe ich etwas von meinem alten Wunsch erfüllt, daß wir Schweizer eine Literatur für uns haben, die eben nicht die Literatur der ganzen Welt seyn soll. Was auf alle Nationen zugleich paßt, wird eben deßwegen keiner insbesonders von großem Nuzen. Einer der Gründe, warum die Neüeren so durchgehends hinter den Alten so weit zurüke bleiben, ist ohne Zweifel dieser, daß unsre Sittenlehre und unsre Politik aus der Athenischen, Spartischen, Römischen, französischen und englischen zusammengesezt ist. Wir studiren den Menschen nicht da, wo wir ihn sehen, sondern wo wir uns ihn einbilden. Izt wünschte ich, daß jemand auch eine Bühne aufrichtete, solche Schauspiele würklich aufzuführen. Aber alles, was ich von den Begebenheiten aus ihrer politischen Welt erfahre, läßt mir keinen Funken Hoffnung dazu übrig. Es ist völlig aus mit uns. Es ist nicht einmal mehr zu spühren, daß ein verständiger Man an der Spize der Nation steht: Was hätten die Schildbürger, oder die ältesten irgend eines Schwäbischen Dorffes mit einem Müller, Meister und Heidegger, anders gemacht, als was ihre Haupter mit ihnen gemacht haben? Bey nahe wäre mir der gottlose Wunsch entfahren, daß Sie ihren Bruhn und ihren Arnold von Brescia herausgegeben hätten, damit man Sie von Zürich nach Berlin gejagt hätte.

Die Haupter unsrer Literatur haben viel ähnliches mit ihren politischen, nur daß diese alte – und jene junge – sind. Einen so tieffen Fall, als der ist, den Klopstok im Angesicht Deütschlands, vor seiner Kayserlichen Majestät gethan hat, würde mir doch unmöglich geschienen haben. Der Bardiet selbst mißfällt mir doch weniger, als Ihnen. Barbarisch und Wild mußte er doch etwas seyn, des Costumé halber. Aber freylich mögen diese alten Helden doch noch viel mehr Verstand gehabt haben, als ihnen der Dichter beylegt. Die Thaten die noch geschehen sollen sind dem Dichter durch ein Kayserliches mit Diamanten beseztes Brustbild angekündiget worden. Und dieses soll beweisen, daß nach einiger Zeit die wahre Hippokrene nebst dem Paktolus mitten in Wien hervorquellen werden. Man sagt, daß der junge Cäsar wünscht, an den Deütschen einen eigenen einer großen und freyen Nation würdigen Charakter, zu sehen. Etwas davon soll er auch in der neülichen Zusamenkunft gegen unsern Thronerben geäußert haben.

Es hat mir doch gefallen, daß Wieland in seiner Zuschrift an Weißen, wieder eine Empfindung in seiner ehemaligen Person geäußert hat. Der Man hat doch wahrlich zu viel Verstand für die Gesellschaft, darin er sich izt befindet. Ich erwarte noch eine Verwandlung in ihm, als denn wird er das seyn, was er seyn muß. Dem guten Pastor Danneil hätte ich etwas mehr Liscowischen Eßig gewünscht um dem Jacobitchen die Haut etwas reiner abzuwaschen.

Herr Müller hat sich des jungen Meisters mehr, als brüderlich angenommen. Er sagt mir, daß ein ganz braver Man aus ihm werden könne. Sehr comisch erzählt dieser Knabe, wie Dr. Hirzel ihm mit einem Gravitätischen Ton gesagt, er soll suchen sich in Berlin geschikt zu machen um hernach etwa in Ostindien sein Glük zufinden.

Izt arbeiten würklich zwey Preßen um mein Critisches Wörterbuch ins Publicum zu bringen. Ich gebe es blos deßwegen, weil ich es gar niemal geben würde, wenn ich so lange warten wollte, bis ich damit zufrieden wäre. Ich bin würklich Neügierig den Eindruk, den es machen wird zu sehen. Vielleicht macht es auch wol gar keinen. Wenigstens wird es bey denen keinen machen, die sagen: „Alles war über den ersten Grundsaz der Schönen Künste in Ungewißheit; Moses Mendelssohn kam, und mit ihm verschwanden alle Zweifel.” Hat doch ihre deütsche Grammatik keinen gemacht. Der gewißeste Nuzen, den die Sache haben wird, ist die Entbindung meines Kopfes von einer Neünjährigen Leibes Frucht. Sie sollen auf Ostern, wenn gleich das Werk nicht fertig werden kan, einen Theil deßelben mit ihren leiblichen Augen zu sehen bekommen.

Ganz richtig hatten Sie vermuthet, daß ihre Buchhändler ihre Befehle nicht würden ausgerichthet haben. Es muß etwas unordentlich bey ihnen zugehen, davon wird inliegender Brief, der in meinem Paket lag, ihnen den Beweis geben.

Was wird doch jemals bey Ihnen zu Stande kommen, wenn sie nicht einmal mit Verbeßerung der Schulanstalten durchkommen können? Es bekomt Ihnen sehr wol, daß sie sich angewöhnt haben, mehr ein Zuschauer, als ein Mitarbeiter in öffentlichen Geschäften zu seyn. Der Posten ist schlechterdings unhaltbar.

Mir ist der verwiechene Sommer angenehm und still verfloßen, und ich sehne mich schon izt wieder nach der stillen Flur und dem Schattigen Busche, der mir die Statt und bey nahe die Menschen vergeßen macht. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGSulzer

den 2 Decemb 69.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der dritten Seite neben »Meisters«: »des Mezger Meisters im Rennweg Sohns«.

Stellenkommentar

so tieffen Fall
Klopstock hatte 1768 den so genannten »Wiener Plan«, den »Plan zur Unterstützung der Wissenschaften in Deutschland« sowie ein Widmungsgesuch an Joseph II. gesandt. Vgl. dazu Pape Der halbierte Dichter 2010, S. 119–129.
Hippokrene nebst dem Paktolus
Heilige Quelle und Fluss, die in der griechischen Mythologie als Ursprung dichterischer Inspiration und materiellen Wohlstands gelten.
junge Cäsar
Joseph II.
Wieland in seiner Zuschrift an Weißen
C. M. Wieland gab seine Widmungsvorrede an Christian Felix Weiße der zweiten Ausgabe zum Musarion von 1769 mit. Zur Widmung an Weiße, mit der Wieland eine Brücke zwischen Zürich und Leipzig, den beiden Gegnern im Literaturstreit, zu schlagen suchte, siehe Heinz Wieland-Handbuch 2008, S. 6.
Pastor Danneil
Vgl. Johann Friedrich Danneils Angriff auf Johann Georg Jacobi: An Herrn Professor Jacobi, von Herrn Pastor Daneil. In: Vollständige und kritische Nachrichten von den besten und merkwürdigsten Schriften, 1769, St. 19, S. 282–284.
jungen Meisters
Vermutlich der Sohn eines Zürcher Metzgermeisters.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann