Brief 20. November – 13. Dezember 1766, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 20. November – 13. Dezember 1766

den 20 Nov.

Mein theürester Freünd.

Füßli hat endlich geantwortet, in einem sanften und noch bescheidenen Ton, der aber doch hier und da das ihm eigene Naturell verräth. Er ist wieder nach London gegangen, und izt bin ich mehr, als jemals für ihn besorget. Wenn er sich nur noch soviel besizt, daß er in vorkommenden Fallen einiges Zutrauen zu uns behält.

Unser Wegelin ist izt recht glüklich. Seine Considerations haben ihm den ehrenhaftesten Eingang in die Academie geöfnet, da ihn der König selbst in rühmlichen Ausdrüken vorgeschlagen, und an ihn selbst ein einnehmendes Königl. Wort geschrieben hat. Ich hoffe, daß ihm auch äußerliche Belohnungen bevorstehen. Wir leben izt nicht nur unter einem Dache, sondern so gar Thür an Thür beysamen. Aber den guten Man hat der beständige Überflus von Gedanken gehindert Ihnen sein Buch zuschiken: Mich aber der Überflus von kleinern und Größern Verrichtungen und Geschäften.

Ihre Calliope sehe ich in den BücherVerzeichnißen, habe aber das Werk nicht holen laßen, weil ich es von Ihnen erwarte, und weil ich es nicht eher lesen werde, bis ich mich in Bereitschaft sezen kann es als eine Mine zur Bereicherung meines Wörterbuchs zu brauchen. So weit ist mir die Zeit schon benommen, daß ich nicht mehr zum Vergnügen lesen kan.

Meine Gesundheit fängt an wieder stärker zu werden, und auch mein Geist wär in guter Verfaßung, wenn ich etwas mehr Muße hätte. Doch vergeht selten ein Tag, daß ich nicht mit meiner Arbeit wenigstens einen kleinen Schritt fortrüke, und einen Stein in den Bau anseze.

Füßli übertreibt seine Klage über die übel geäzte Zeichnungen. Dies können Sie mir zuversichtlich glauben. Es ist keine Copey in der Welt, die dem Urbild ganz gleich komme. Er wagt doch sehr viel, die Noachide in engl. Verse zu bringen, wie wol die 4 welche Sie anführen, so viel ich davon urtheilen kan, den würklichen Ton des englischen haben. Gewiß ist er ein Mensch von außerordentlichen Gaben. Dr. Zimmerman schreibt mir, daß der Lobredner des Ant. Breitingers ein Gedicht von der zukünftigen Welt, schweizerische Lieder schreibe, daß derselbe eine Merkwürdige Schrift über die unendliche Theilbarkeit des Raums und der Zeit verfertiget habe, und auch an Verbeßerung der Ferngläser arbeite nachdem er bereits die Vergrößerungs Gläser vollkomner gemacht habe. Wenn alles dieses von unserm Lavater geschieht, so ist er mir ein Rätsel.

Mylord Marshall hat mir die Geschicht zwischen Rousseau und Hume zum Nachtheil des erstern erzählt. Er giebt vor alle Umstände zu wißen, weil alles durch ihn gegangen sey. Noch ist mir die Sache räthselhaft. Unmöglich kan Rousseau niederträchtig seyn.

Auf den Ausgang der Mediation in G. bin ich höchst aufmerksam. Mir komt es vor, als wenn sie etwas außerordentliches hervorbringen müßte. Aber wenn alle Citoy. Rousseaues wären, würde es einer Bürgerschaft beßer gehen, als dem einzeln Philosophen. Es ist niemals möglich gewesen, wieder einen reißenden Strohm zu schwimmen. Europa überhaupt kommt mir wie der Romische Staat unter Cicero vor. Es ist an kein Halten mehr zu denken. Die Herschsucht, und die Üppigkeit der Großen, sie seyen Hrn. oder Diener, zwingt die Völker in Feßeln.

So weit habe ich schon vor 14 Tagen geschrieben, und seit dem habe ich die ganze Folge deßen, was ich noch hinzuthun wollte vergeßen. Seit dem hat man hier Humes Nachricht an das Publicum seinen Streit mit Rousseau betreffend. Noch habe ich es nicht können zu lesen bekommen. Man sagt mir, daß daraus erhelle es sey nicht mehr ganz richtig in des ehrlichen J. J. Kopf. Dies ist endlich noch beßer, als wenn es mit seinem Herzen unrichtig wäre. Man hat es ihm arg genug gemacht, um ihn mißtrauisch zu machen und die gescheideste Köpfe für Böswichter zu halten. Ich fürchte, daß er in England wenig finden werde, die sich seiner annehmen.

Unser Wegelin bedauret sehr, daß er versäumt hat Ihnen seine Considerations zuzuschiken. Sein Kopf ist immer so stark mit abstracten Begriffen angefüllt, daß er wenig aufmerksamkeit auf Bestellung kleiner Geschäfte haben kan, und ich habe in dergleichen Dingen das Gedächtnis fast ganz verlohren. Ich suche mir anzugewöhnen alle kleinen Geschäfte die ich zubesorgen habe aufzuschreiben; aber noch vergeße ich gar zu ofte zu rechter Zeit meine Schreibtafel wieder durchzulesen.

Lambert hat einen Ruff nach Rußland, den er aber so, wie er ist nicht annehmen wird. Doch hat er sich in Traktaten eingelaßen. Es ist Schade daß er sich dem König nicht hat können in einem vortheilhaftern Licht zeigen. Ich würde ihn gar sehr ungerne mißen, ob ihn gleich kein Mensch mehr genießt, weil er sich alles Umgangs enthält, auch selten auf der Academie, wo er seyn muß mit jemand spricht.

Es ist mir unerträglich, daß auch die Hrn. v. Bern das despotische Wesen der Großen annehmen. Welchem Geseze zufolge können sie ihren Bürgern verbiethen nach Schinznach zu gehen und der oeconomischen Gesellschaft allgemeine Policey betreffende Fragen abzuhandeln. O Jean Jaques bald hätte ich Lust mit dir unter die Wilden zu gehen! Ist das Gerüchte von der Hoffnung eines neüen Erben zum Preüßischen Thron schon zu Ihnen gekomen? Die Sache hat izt schon gute Folgen und wird verhoffentlich noch mehrere nach sich ziehen.

Ich bin noch einmal im Schreiben unterbrochen worden, und dieses macht, daß ich izt kurz abbreche.

Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGSulzer.

den 13 Dec.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Stellenkommentar

Eingang in die Academie
Jacob Wegelin wurde am 13. November 1766 ordentliches Mitglied der Akademie.
Dr. Zimmerman schreibt mir
Vgl. Zimmermanns Äußerungen über Lavater in einem Brief an Sulzer, 1. November 1766: »Indeß entstehet ein neüer Tyrtäus oder Gleim, der Schweizerlieder schreibt die Deütschland lesen wird: der gleiche Mann schreibt im Geschmacke des Thomas ein Eloge von dem Antistes Breitinger, wo derbe Warheiten unserm Zeitalter gesagt werden: der gleiche Mann schreibt ein Lehrgedicht über die zukünftige Welt, das ganz gewiß die zukünftige Unterwelt wenigstens lesen wird; der gleiche Mann hat eben izt die Schweizerlieder, das Eloge, und eine Abhandlung vollendet und zum Druke fertig, mit der Aufschrift: die unendliche Theilbarkeit des Raums, demonstrirt und einige folgen daraus hergeleitet. Sie ist mehr physisch als metaphysisch und für mich äußerst frappant. Der gleiche Mann arbeitet beyläufig an der Verbeßerung der Perspective, und glaubt es zu Stand zu bringen daß der Campus visionis dreymal so groß als gewöhnlich, die deutlichkeit merklich besser, und die Vergrößerung wie in einem gleichlangen Telescopio Newtoniano, die länge aber nicht mehr als vier fuß werde, und eine ganze Machine die doch nur aus zwölf Gläsern besteht, nicht höher als 16 gulden kommen soll. Er hat gegenwärtig ein Microscopium nach der Helfte dieser Theorie wirklich verfertiget, welche ihm ungemeine dienste thut. – Den gleichen Mann suche ich zu einer ganz neüen, auf Millionen Beobachtungen gegründeten Physiognomik zu ermuntern, worinn er ein ganzer Meister ist; er gründet sein System mehrentheils auf die Profile.« (LBH, Ms XLII,1933,A,I,I,93, Bl. 18).
Lobredner des Ant. Breitingers
Johann Caspar Lavaters Historische Lobrede auf Johann Jacob Breitinger erschien 1771. In dieser Zeit arbeitete Lavater an den Schweizerliedern, die 1767 veröffentlicht wurden.
Gedicht von der zukünftigen Welt
Lavater trug sich seit 1768 mit einer Idee zu einem Versgedicht über die Unsterblichkeit, das allerdings nicht ausgeführt wurde. Vielmehr setzte er sich zunehmend in philosophischen und hermeneutischen Grundsatzfragen mit dem Thema der Unsterblichkeit auseinander, worüber er sich im regen Briefwechsel mit Johann Georg Zimmermann austauschte. Zehn Briefe an Zimmermann ließ Lavater anschließend im Herbst 1768 als ein eigenes, prosaisches Werk drucken, die Aussichten in die Ewigkeit. Mit den Folgebänden von 1769 und 1773 ersetzte es auf diese Weise das nicht entstandene Gedicht.
unendliche Theilbarkeit des Raums
Das unpublizierte Manuskript ist unter dem Titel Abhandlung von der unausdenklichen Theilbarkeit des Raums u. der Zeit. 1766 überliefert (ZB, FA Lav Ms 55a). Vgl. auch J. C. Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, Bd. 3, 1773, 24. Brief.
Mylord Marshall hat mir die Geschicht
George Keith, Lord Marischal von Schottland, stand mit Hume und Rousseau in brieflichem Kontakt und war in deren Zerwürfnis direkt involviert. Zu dem öffentlich ausgetragenen Zerwürfnis zwischen Hume und Rousseau siehe Zaretsky und Scott Philosophers' Quarrel 2010. – Schulz Affäre Hume-Rousseau in Briefen und Zeitdokumenten 2012. Bei Schulz sind die Briefe zwischen Hume, Rousseau und Keith abgedruckt.
Humes Nachricht an das Publicum
David Humes im Oktober 1766 in Paris veröffentlichte Broschüre Exposé succinct de la contestation qui s'est élevée entre M. Hume et M. Rousseau, avec les pièces justificatives.
in einem vortheilhaftern Licht
Vgl. Harnack Geschichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1900, Bd. 1, S. 366.
Hoffnung eines neüen Erben
Der Thronfolger und spätere König Friedrich Wilhelm II. hatte 1765 Elisabeth Christine Ulrike von Braunschweig-Wolfenbüttel geheiratet. Aus der Ehe, die 1769 geschieden wurde, ging 1767 eine Tochter hervor.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann