Brief vom 24. März 1761, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 24. März 1761

Mein theürester Freünd.

Auch in diesem Jahr fängt die Hand des Schiksals an schweer auf mir zu liegen. Ich habe das beste und liebste meiner Kinder durch den Tod verlohren. Ein Kind von englischem Geist und Herzen; das jungste, der dreyen, die nach dem Tode ihrer Mutter mir übrig geblieben waren; meine größte Freüde und fast meine einzige Erquikung in dem verwiechenen melancholischem Jahr. So viel Kummer macht mich alt und des Lebens überdrüßig. Es fehlt nicht viel daran, daß ich nicht mich ernstlich entschließe dies Land zu verlaßen, um den Überrest meiner Tage in meinem Vaterland in den Armen der Freündschaft zu zu bringen. Ich bin in Gefahr mich in diesem Land endlich allein, ohne natürliche Verbindung zu sehen. Doch werde ich den Frieden abwarten und als denn eine etwas veränderte Lebensart versuchen. Ich bin entschloßen, als denn mein Lehramt aufzugeben und nur noch bey der Academie zu bleiben.

Die öftern Zerrüttungen sind eine große Hinternis an der Vollendung meines Wörterbuches zu welchem doch alle wesentliche Säze bereits in meinen Papieren vorhanden sind. Ich habe nun alle andre Arbeiten aufgegeben, und werde alle Zeit, da ich zu arbeiten im Stande bin, blos dazu anwenden.

Es hat sich hier im Reich des Geschmaks eine neüe und wunderbare Erscheinung gezeiget. [→]Eine Dichterin, die blos die Natur gebildet hat und die nur von den Musen gelehrt, große Dinge verspricht. Sie ist aus Schlesien gebürtig, hat ihre ersten Jahre, als eine Vieh Magd zugebracht und hernach einen Schneider geheyrathet, mit welchem sie in der größten Noth, die eine Frau betreffen kan, gelebt hat. Man hat ihren bösen, unerträglichen Mann von ihr genommen und unter die Soldaten gestekt, und sie befindet sich gegenwärtig in Berlin, wo sie sich meiner Führung überläßt. Sie besizet einen ausnehmenden Geist, eine sehr schnelle und sehr glükliche Vorstellungs Kraft. Sie drükt sich über alles mit der größten Fertigkeit so gut aus, wie irgend ein Mensch thun kann, der sein ganzes Leben mit Nachdenken zugebracht hat, und es kostet ihr gar nichts die feineste Gedanken bey jedem Gegenstand zuerzeügen und in sehr guten Versen vorzutragen. Ich zweifle daran, ob jemals ein Mensch die Sprache und den Reim so sehr in seiner Gewallt gehabt hat, als diese Frau. Sie sezt sich in einer großen Gesellschaft, unter dem Geschwaz von 12 und mehr Personen hin und schreibt Lieder und Oden, deren sich kein Dichter zu schämen hätte. Bey der Malzeit bringt sie in zwey oder vier Versen Gesundheiten aus, darunter sehr viele sind, welche in der griechischen Anthologie eine gute Figur machen würden. Sie ist gegenwärtig noch zu zerstreüt, als daß sie hier ein ausgearbeitetes Gedicht hätte machen können. Ich werde also Ihnen zur Probe ihres Geistes nur einige Fragmente hiebey schiken. Dies wunderbare Weib ist ohngefehr 40 Jahre alt, hat aber die Lebhaftigkeit und Lernbegierde einer Person von 18 Jahren. Außer des Faßmans Gesprächen im Reiche der Todten, der Aramena, Hallers und Günthers Gedichten hat sie noch wenig gelesen; Ich habe ihr das Verlohrne Paradies und ihre epische Gedichte gegeben, die sie iezt mit heißhungriger Begierde ließt. Sie hat mir versprochen, diesem Brief einige Zeilen an Sie beyzulegen; weil ich sie aber in zwey Tagen, wegen der betrübten Umständen in meinem Hause nicht gesehen, und heüte vor Abgang dieses Briefes schwerlich sehen werde, so wird dieses wol auf ein ander mal anstehen müßen. Es ist Schade, daß ihre Gesundheiten nicht aufgeschrieben werden. Vor einigen Tagen brachte sie mir eine zu, davon ich nur den Sinn behalten habe. „Du trauerst noch immer, mein ernster Nachbar, mögest du in der Folge deines Lebens keine Thränen mehr sehen, als Thränen der Zärtlichkeit an deiner Brust vergoßen”. Als sie neülich bey mir aß, sah sie beständig das gemalte Bild meiner verstorbenen Freündin an, und gleich darauf sezte sie ein Lied auf, worin folgende Strophen stehen:

Ach klage nur, ganz ist sie deiner Schmerzen
Ganz deiner unumschränkten Trauer werth
Welch Antliz! O welch Bild des besten Herzen
Das nun der Wurm verzehrt.
Der heitre Tag den keine Wolk' umhüllet
Wie lächelt er von ihrer Stirn herab.
Und jeder Blik wie mit Gefühl erfüllet
Der Liebe, die ihn gab.
– – – –
Zwölf mal hat schon der Mond in vollem Lichte
Dir zugesehn, wenn schwärzer, als die Nacht
Der tieffe Gram von deinem Angesichte
Den Schlaf entfliehn gemacht.
Hör ein mal auf und wende deine Blike
Vom Grab. Geneüs des Lebens kurzen Traum.
Ach ohne Liebe bleibt im größten Glüke
das Herz ein leerer Raum.
Such unter allen Schönen, die dem Lande
die Liebe gab, dir eine Tochter aus
Gezeichnet von der Tugend, mit Verstande
Zur Zierde für dein Haus.
Sanft wie ein Lam, das in der Mittags Stunde
Fromm auf dem Schoos der jungen Chloe spielt
Sey sie und trag ein Herz in ihrem Munde
das nur für dich gefühlt.

Ich habe noch stärkere und schönere Strophen von ihr, die sie mitten im Tumult der Gesellschaft mit der größten Geschwindigkeit gedacht und aufgeschrieben hat, die ich aber jezo unter meinen Papieren nicht gleich finde. Ich werde Ihnen ein ander mal ein kleines Gedicht auf den König schiken, das sie auch ex tempore gemacht und das meines Erachtens der besten Ode des Horaz werth ist. Ich habe es nicht bey der Hand. Der Inhalt ist dieser. Es entsteht im Reich der Schatten eine große Bewegung über die Gerüchte von Friedrichs thaten. Alexander weint vor Verdruß eine Geister Zähre, daß einer einer in der Welt ihn an Größe übertrifft. Achilles stampft vor Wuth auf den Boden der Hölle, und leügnet die Thaten Friedrichs, in diesem Augenblik kommen die Schatten der erschlagenen bey Torgau und bestätigen die Gerüchte p.

[→]Ein Engländer hat auf Voltairen ein Epigram gemacht. „Du hast so viel Geist, du bist so mager und so gottlos, daß du dem Milton, seinem Tod und seiner Sünde gleichest.”

Ich schike Ihnen durch die Meßgelegenheit ihren Brun und einige andre Sachen.

Leben Sie wol mein theürester und helffen Sie mir meinen Kummer durch ihre freündschaftliche Briefe vertreiben. Den Einschluß bitte sogleich mit der ersten Post zu bestellen.

Sulzer.

den 24 März.

Beilage: Eingeschlossener Brief von Anna Louisa Karsch an Bodmer

HochEdelGebohrner Höchst zu VerEhrender,
des ruhms würdiger Herr Profeßor

mein schiksaal lis mich im Staub gebohren werden, ich wuchs untter dem pöbel zu lasten von sorgen empohr die meiner wartetten, Ich war ferne von den glükseeligkeiten des lebens und ferne von dem auge der großen wellt, aber ich bin nicht unbekant geblieben mit denen vorzügen des geistes und mit denen glänzenden schönheiten die uns Bodmern mahlen wenn man daß vergnügen hat Ihn zu lesen, lange kannt ich Ihre fürtreffliche Seele schon, und ich kenne Sie deromahlen genauer, Jene unsichtbahre hand die allen begebenheiten Ihre Triebfedern gab führte mich nach Berlin, hier fand ich mehrerre früchte Ihres Erhabnen Ihres dichtrischn geistes, wie prächtig, Sullzer ist ganz mein freund, und Er ist es um so mehr weill ich Ihm diese mir nüzliche käntniß verdanken muß, aber bester dichter ich kenne Sie nicht allein dem feinern Theile nach, ich bin auch untterrichtet von denen zügen Ihres antlizes, Ihr gemählde hatt in dem zimmer Ihres freundes Einen plaz über dem bilde derer die Sein vergnügen mitt in die grufft nahm, Er ist ganz zu beklagen, der redliche Sullzer, wie viel verlohr Er, der pinsel hatt alle schönheiten Einer himlischen Seele in dem antliz in dem lächelnden munde abgedrükt deßen Todte anmuth ich immer küßen will so offt ich daß betrübte vergnügen habe meine blike auff Ein bild zu richten daß dem bilde Eines Engels gleicht, Er wird Ihnen Seinem schmerz beschrieben haben, ach diese allte wunden waren noch nicht verheillt, und die vorsehung Erlaubte dem Tode Sie wieder blutend zu machen, Traurig sizt Er und weint über der leiche Seines Jüngsten kindes, der liebling untter den dreyen, Sie ist dahin, von Einer langen abzehrenden niederlage blieb nichts übrig alß die kleine Seele die Ein mit haut überzognes gerippe noch ahtmen machte, der zärtlichste vatter, Er wollte Sie von dem himmell erbitten, Er beschwuhr den arzt aber umsonst, Sie starb, fühlen Sie seinem gram in dem zurük denken an die bahre Ihres lieblings deßen verlust Sie der melancholie des klagenden Hallers entgegen sezten, ich hüte mich Ihnen mehr davon zu sagen, ich bitte um Einem Theil Ihrer aufmerksamkeit und Ihrer nachsicht wen ich es wagen werde mit Ihnen in der rauen sprache meiner muse zu sprechen, ich hoffe Ihre vergünstiung darzu und ich bin voll von den gedanken dieser schmeichelnden hoffnung und voll von hochachtung gegen Ihre verdienste

Ewer HochEdelGebohrnen
meines
Höchst zu Ehrenden Herrn
VerEhrerin und dienerrin
A L Karschin
gebohrne dürbachin

Berlin, den 24. März 1761.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Körte 1804, S. 331–336.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief von Anna Louisa Karsch an Bodmer, Berlin, 24. März 1761 (ZB, Ms Bodmer 3.3, Nr. 1). Auf der Rückseite des gefalteten Briefes steht die handschriftliche Anmerkung Sulzers: »So eben bringt mir die Dichterin diesen Brief, da ich den meinigen Abschiken will.« (Brief sprachlich normiert abgedr. in Hirzel Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen 1779, Bd. 2, S. 34–36 sowie in Körte (Hrsg.) Briefe der Schweizer 1804, S. 336–338).

Eigenhändige Korrekturen

in zwey Tagen, wegen
in zwey Tagen, da wegen

Stellenkommentar

das beste und liebste meiner Kinder
Maria Johanna Victoria Sulzer starb am 21. März 1761 im Alter von knapp vier Jahren. Sulzer schrieb den Brief an ihrem Geburtstag, dem 24. März (vgl. Denzler Die Sulzer von Winterthur 1933, Taf. 8, Nr. 857).
eine neüe und wunderbare Erscheinung
Die aus Schlesien stammende Dichterin Anna Louisa Karsch, die Anfang 1761 nach Berlin übergesiedelt war. Vgl. zu Karsch: Bennholdt-Thomsen und Runge (Hrsg.) Anna Louisa Karsch (1722–1791) 1992.
Eine Dichterin, die blos die Natur [...] bestätigen die Gerüchte
Abgedr. in Hirzel Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen 1779, Bd. 2, S. 30–34.
Faßmans Gesprächen im Reiche der Todten
Die in 16 Bänden erschienene periodische Schrift von David Fassmann, Gespräche In Dem Reiche derer Todten, 1718–1740.
der Aramena
Anton Ulrich, Die durchleuchtige Syrerin Aramena, 1678.
Hallers und Günthers Gedichten
Die Gedichte Albrecht von Hallers und Christian Günthers waren in Sammlungen veröffentlicht: A. v. Haller, Versuch Schweizerischer Gedichten, 1732 (mit vielen darauffolgenden veränderten Auflagen) und Sammlung von Johann Christian Günthers aus Schlesien, theils noch nie gedruckten, theils schon heraus gegebenen, Deutschen und Lateinischen Gedichten, 1724–1727.
sezte sie ein Lied auf
Publiziert in: Karsch Auserlesene Gedichte 1764, S. 144–146. Vgl. zu den Lektüren der Karsch auch Ramler an Gleim, Berlin, 2. Mai 1761: »Man bringt eine kleine Bibliothek für sie zusammen, wo ein Jeder sein Päckchen zuträgt. Ihre Wohnung und täglichen Unterhalt hat sie bey einem schlesischen Baron v. Cottwitz, der sie aus seinem Vaterlande hieher gebracht hat.« (GhH, Hs. A 3229).
einer einer
Verschreibung Sulzers.
Ein Engländer hat auf Voltairen
Nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann