Brief vom 16. September 1767, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 16. September 1767

Die Kaufleute in Moscau haben an Hrn. Brunner den rechten Mann; gebe Gott daß er eben so rechtschaffene Männer an ihnen finde! Aber ich will Ihn selbst reden lassen. Drey Zeilen von Ihnen, mein theurester, machen mir allemal lust Ihnen drey Blätter zurükzuschreiben. Selbst ein brief, den sie mir in ihrem gedankenlosen landleben schreiben macht mich drey tage munterer, wenn ich mich fruchtlos bemühet habe die politischen sofisten zu bekehren. Mein unruhiger geist spornt mich immer, daß ich lieber fruchtlos arbeite als size und gähne. Ich geniesse von dem landjunkerlichen leben nichts, als daß ich jeden schönen Abend am Gestade der Limmat spaziere, und des Nachmittags die reifen Feigen von meinen drey Feigenbäumen pflüke. Diese haben sie doch im Lande Moab nicht. Der jüdische Nahme! warum nicht lieber Meyental, oder sommerruhewonne oder S. Georg im Feld? Ich wollte doch daß sie mich dahin zu Ihnen versezten; dises könnten sie thun, wenn sie ein diarium nur von einem tag schrieben, in welchem sie alle die kleinsten, gedankenleersten, unthätigsten dinge Ihres sinnlichen Lebens bezeichneten. Ich möchte doch wissen wie ein papillon philosophe lebte. Ich denke, daß Ihre liebsten Töchter nicht unsinnlicher in ihrem Garten von der Anemone zur Jonquille fliegen; wenngleich die Madle. Meister nicht mit ihnen fliegt. Der himmel behüte dise unschuldigen papillons vor Sperlingen! Der dichter des geprüften Abrahams ist zu einem Sperling geworden. Ich habe zwey Gedichte in manuscr. von ihm gesehen, Musarion in drey Gesängen und Idris in achten; In achtzeiligen gereimten strophen. Es ist unglaublich wie viel Genie, Wiz, Poesie in disen stücken ist. Hier ist mehr als La Fontaine. Die Lessinge, Gerstenberger, Weisse, müssen ihn beneiden, indem sie ihm fluchen. Er könnte mit Petron um das Amt eines Arbitri Elegantiarum bey Nero concurrieren. Ganymed, Silen, und die Faunen würden sich schämen dem publico die Obscenitäten zu sagen, welche ihm der Mensch sagt, der mit den Seelen der Abgestorbenen briefe gewechselt hat. Amor und der irdischste Amor, muß sich mit allen seinen flammen in seinen Kopf und Herz geworfen haben. Aber er wird für süsse Herren und süsse Schönen ein Classicus werden, und wie viel Fälle der unschuld werden auf seine Rechnung kommen!

Füßli sagt mir, daß er wegen der Taschenkalender Hn Gravius zugeschrieben habe.

Die löbl. vorörtl. haben die Mine noch nicht, daß sie sich bey Ihnen, mein Freund, Lob erholen wollen. Vor drey wochen sind zween andere Commissaires nach Zürich und zween nach Bern gekommen, eine Addresse von den Citoiens zu überbringen, in welcher sie beweisen, daß der Fall der Garantie niemals war, und daß Garans Ihnen ihre Constitution nicht berechtiget zu verändern. Hier hat der geh. rath nach vielem bedenken die Addresse ihnen abgenommen, doch nur, daß er sie dem grossen Rath zeigen und erwarten wolle, ob dieser sie abnehmen wolle. Drauf hat man ihnen insinuirt, daß sie die stadt verlassen sollten. Doch ist das memoire noch nicht vor die 200. gebracht; man wartet, was Bern daraus machen wolle. Der geh. rath in Bern hatte sie unangehört heimschiken wollen, aber die grossen räthe murreten und erkannten daß sie verhört werden müßten. Doch ist es noch nicht geschehen. Vermuthlich wollen die Räthe warten bis die Entschließung von Versailles kommt. Wenn sie die Addresse verwirft, welcher politicus von Zürich oder Bern wird sie nicht auch verwerfen? Der samariter ist noch nicht gekommen den Nahmen des Nächsten an dem verwundeten zu verdienen. Wir müssen der Parabel einen andern Schwung geben: Der Samariter sah ihn in s. Blute liegen, er bemerkte doch daß ihm der puls noch schlug: Er hat noch warmes blut in den adern, sprach er, er möchte sich leicht wieder erholen, und dem priester und dem leviten übels nachreden, daß sie ihrem beruf nachgegangen und sich nicht gesäumt ihn aufzuheben. Dem Ärgerniß zuvorzukommen gab er ihm noch einen stich, die lezten tropfen blut abzuzapfen.

Ich hatte dieses Blatt in Hn Brunners einschließen wollen, aber er wollte lieber, daß ich den brief spedirte.

Unser Hr. diacon Waser hat seine älteste Tochter Hn Vogel, einem jungen Architekt, verheurathet, der 2. jahre bey Winkelmann gewesen und dessen Gunst sich erworben hat.

Die zween Genfer die hier waren, haben mein Herz gewonnen, und meinen Verstand eingeleuchtet. Ihr Memoire ist izt gedrukt. Der grosse Ha... ist ihnen so feind, als dem guten J. Jaq. R.

Umarmen sie für mich in den rosengängen ihres Gartens meinen liebsten Wegelin der so in meinem Kopf denkt, daß er in seinem eigenem meine gedanken und dise noch besser in ordnung und befestigter finden kann. Dagegen umarme ich für sie unsern Heß von Neftenbach, der gleich izt in mein Zimmer tritt, und mit mir sich zu ihnen beiden versezet.

B.

den 16. Sept. 1767.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Anschrift

Pour Mr. Soulzer de l'acad. royale à Berlin

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief von Salomon Brunner.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: »16. Sept 67.«

Eigenhändige Korrekturen

oder sommerruhewonne
oder sommer⌈ruhe⌉wonne,

Stellenkommentar

an Hrn. Brunner
Salomon Brunner wurde auf Vermittlung Sulzers und Wasers Pastor der deutschen reformierten Gemeinde in Moskau. Bodmer und Breitinger waren ebenfalls involviert, wie Wasers Brief an Bodmer vom 6. Mai 1767 zeigt, in dem er Absätze aus Sulzers Brief die Predigerstelle betreffend zitiert: »Noch eine Stelle in dem Briefe, welche ich Ihnen hier ganz ausschreiben will, mit Bitte zu sehen, oder mit H Can. Breit: sich zu berathen ob jemand in Z. sich fände der d antrag annehmen würde. Hier ist niemand.« Waser hatte zunächst auch an Christoph Heinrich Müller gedacht, aber dann die Idee mit der Begründung verworfen: »wie übel würden s. Richter zufrieden seyn, wenn sie dergl. Predigerbrod in Moscow eßen müssten, und er äße es izt doch vermuthlich so gern wenn er es haben könte«. Vgl. dazu auch Wasers Briefe vom 12. Juni 1767 und vom 6. September 1767 an Bodmer. In letzterem bat er Bodmer: »Sie sind also so gut, und stellen dem Hr. Brunner die Explication von Moscow selbst zu: Ich habe an ihn nicht geschrieben.« (ZB, Ms Bodmer 6.3, Nr. 50).
Jonquille
Eine Art Narzisse.
zwey Gedichte in manuscr.
Wielands Musarion oder Die Philosophie der Grazien und Idris erschienen 1768 bei Reich.
mit Petron um das Amt eines Arbitri Elegantiarum
Titus Petronius, römischer Senator und Verfasser des Romans Satyricon, wurde unter Kaiser Nero als Arbiter Elegantiae, als Schiedsrichter der Feinheiten des Geschmacks bezeichnet.
Füßli sagt mir
Schreiben nicht ermittelt. In Füsslis Brief ging es vermutlich um Johann Hieronymus von Gravius, der zu diesem Zeitpunkt für die Genealogischen Kalender zuständig war. Sulzer, der mit dem Erscheinungsbild der Kalender unzufrieden war und einen Umschwung forderte, stand mit ihm im Austausch und regte an, Zeichner und Kupferstecher wie Füssli, Meil oder Chodowiecki für die Monatskupfer zu gewinnen. Die Reformansätze Sulzers, die er auch in einer Denkschrift vom 31. Dezember 1768 darlegte, fruchteteten und der Kalender von 1770 brachte die berühmten Kupfer Chodowieckis zu Lessings Minna von Barnhelm.
löbl. vorörtl.
Gemeint ist die vorörtliche Schweizer Regierung, ein Begriff für die übergeordnete Leitungsinstanz der Kantone.
älteste Tochter
Die Hochzeit zwischen Esther Waser und David Vogel fand am 3. Januar 1768 statt. Esther Waser verstarb nach der Geburt des zweiten Kindes 1769. Zu ihr, ihrem Ehemann und dessen Architekturstudien in Rom vgl. Gubler Der Zürcher Architekt David Vogel 1974.
Memoire ist izt gedrukt
Vermutlich [Théodore Rilliet], Apologie de la réjection du plan de la conciliation, du 15. decembre 1766, 1767.
grosse Ha...
Albrecht von Haller.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann