Sulzer in todesgefahr! Da ich in dem fünf und siebzigsten Sommer meines Lebens jeden schönen Abend mit Breitingern, Steinbrücheln, director Schuldhessen und den jüngern Freunden, Bürkli, Leonard Meister, Escher, Johan Schuldheß, zwo bis drey stunden an dem Gestad der Limmat gehe, laufe, oder unter der Linde size, wo wir einen Artikel der theorie der künste wiederholen, oder Hollands Reflexions philosophiques bekräftigen, der Werke, welche den Deutschen Καλοκαγαθιαν einpflanzen, und den franzosen Religion geben sollen; wo wir die Räder der maschine zusammensezen, welche dem verjagten Meister seine Vaterstadt wieder geben sollen, oder den Rathsherren danken, die den wakern mann würklich wieder rehabilitirt haben, wo wir izt auf neue Anschläge denken, für unsern Müller eben dises Recht, eben dise gute That, zu fodern! Sollte ich die Zufriedenheit die Meisters Widerkunft mir verursachet nicht rein geniessen! Sollte ich sie mit Sulzers tod erkauft haben! Sollte das licht der augen mir so gut wieder hergestellt seyn, und ich es nicht brauchen können die freundschaftlichen liebenswürdigen briefe von Sulzer, seine schriften von dem richtigsten Geschmak, der wahresten schönheit, der schönsten sittlichkeit zu lesen!
Klopstok und Wieland sind mir entrissen, da sie beyde noch leben; ihr Herz, ihre unempfindlichkeit, hat sie mir entrissen! Sulzern kann keine Macht von mir nehmen, als des Todes, die alles Irdische bezwinget! Doch nein; der tod selbst nicht; er liebt mich nach seinem tod, nach meinem tod; und wenn beyden gestorbenen noch Erinnerung an dises hinfällige, wurmstichige Leben ist, so bin ich zuföderst in seinem Andenken, wo keine Entfernung von der Erde zum Himmel ihn aus meinem Andenken nimmt.
Lebe ewig mit den himmlischen wol, wenn du nicht mehr bey den sterblichen bist, mein allerliebster Sulzer, erwarte mich in den glükseligen gegenden, in welchen ich Einen augenblik nach dir ankommen werde! Wenn du aber noch lebest dise Zeilen zu lesen, so sey von neuem in das menschliche leben willkommen, in welchem ich dich schon für verlohren gegeben; und schon tausend thränen vergossen habe dich um meinetwillen zu beweinen. Denn was ist es anderes als Eigennuzen der Lebendigen, die einen seligen Todten beweinen.
Dein ewig liebender und geliebter
Bodmern
Zürch den 12ten. Septemb. 1772
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b. – E: Zehnder-Stadlin 1875, S. 433 f.
Von Sulzer in der Abschrift und auf dem Brief fälschlicherweise auf den 2. September 1772 datiert.
Herrn professor Sulzern Mitglied der königl. Academie Empfohlen Herrn professor Müller in Berlin franco Nürnberg.
Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite »2 Sept. 72.« – Siegelreste.