Brief vom 12. Mai 1772, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 12. Mai 1772

Mein Sulzer, wie groß ist der Haß den die Herder XXX Riedel auf mich geworfen, daß sie ihn bis auf Sie erstreken. Wenn es nicht Haß wäre was könnte diese Leute vermocht haben mit dieser unverschämtheit auf Ihre Theorie auszufallen? Ich wünsche daß Wieland an diesem Unsinn nicht Antheil habe.

Sie, mein liebster, sollten nicht auf Ararath gestiegen seyn, mich da mit drey andächtigen Pilgrimen frieren zu sehen. Was that es Ihnen daß Gleim und Wieland mit ihren, nicht unsern Musen und Grazien Unzucht trieben? Ich hatte [→]Sulzern nicht als den trübsinnigen Eyferer, nicht als den Schmähsüchtigen von finsterm Glauben gekannt. Wollen wir nicht das lob dieser Kenner des menschlichen Herzens zu gewinnen bald einen Gang in die blumengefilde der lachenden landschaften im Idris, Amadise, und Musarion vornehmen. Wir würden so, geschwinder zum Ziel der Verfeinerung des gefühles und zur Ehrlichkeit des Herzens gelangen als durch das moralische raisonnement!

Wieland hat Geßnern geschrieben, daß er bald bey seinen alten Freunden in Zürch in einem Werk erscheinen werde, in welchem er sich selbst übertroffen, und welches unsere Zufriedenheit ohne ausnahme erhalten werde.

Soll ich noch hoffen daß man aus den Deutschen etwas machen könne, oder soll ich glauben omnem effusum esse laborem?

Beständig der Ihrige
Bodmern

Zürch den 12. May 1772

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Anschrift

Pour Mr. Le Professr. Soulzer

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: »12 May 72.«

Eigenhändige Korrekturen

Ararath gestiegen seyn
Ararath gestiegen sind seyn

Stellenkommentar

mit dieser unverschämtheit
Bodmer bezieht sich hier auf den Verriss des ersten Teils von Sulzers AT in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen, 1772, St. 12, S. 89–94. Die Rezension vom 11. Februar 1772 stammte allerdings nicht von Herder oder Riedel, sondern von Johann Heinrich Merck. Herder rezensierte den zweiten Teil der AT in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, 1774, St. 22. Bodmer war wohl wegen der polemischen Angriffe Riedels (u. a. in der Philosophischen Bibliothek und Ueber das Publicum) und Herders (u. a. in Ueber die neuere Deutsche Litteratur) davon ausgegangen, dass einer von ihnen der Verfasser sein müsste. Außerdem bemängelte Merck, dass Sulzer »dem Faden nicht gefolgt ist, den Leßing und Herder aufgewunden haben, der die Gränzen jeder einzelnen Künste und ihre Bedürfnisse bestimmt.« (S. 91).
Ararath gestiegen seyn
Im Gebirge Ararat soll nach der Sintflut die Arche Noah gestrandet sein (Gen 8, 4). Bodmer spielt hier auf eine Stelle in Mercks Rezension an, in der es heißt: »Durch das Ganze herrscht überhaupt eine beständige Strafpredigt gegen Wieland, Gleim und Jacobi. Hingegen sind fast alle Beyspiele aus der Noachide genommen. Nachdem sich die Wasser der Epischen Sündfluth in Deutschland verlaufen, so hätte man die Trümmer der Bodmerischen Arche auf dem Gebürge, der Andacht weniger Pilgrime überlassen können.« (S. 94).
Sulzern nicht als [...] gekannt
Vgl. ebd.: »Wäre Herr S. selbst ein Dilettante, so würde sein Kunstsystem nicht trübsinniger Eifer, sondern heitrer Glaube seyn, der nie schmält.«
Gang in die blumengefilde der lachenden landschaften
Vgl. ebd.: »Ueber die Moralität seiner Schriften ist der Verf. des Agathon und der Musarion bey allen gesunden Köpfen längst gerechtfertigt und Kenner des menschlichen Herzens mögen entscheiden, ob eine Leitung oder Verfeinerung des Gefühls durch Blumenpfade einer lachenden Landschaft nicht geschwinder zum Ziel führe, also die kürzeste mathematische Linie des moralischen Raisonnements.«
Wieland hat Geßnern geschrieben
Nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann