Brief vom 14. Oktober 1772, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 14. Oktober 1772

Seitdem, mein theurester, ich die Botschaft von ihrem aufleben empfangen ist mein Geist wider lebendig. In mein fünf und siebzigstes Jahr kam die Heiterkeit des Dreissigsten wider in welchem ich mein liebstes Kind noch hatte. Ihrer beraubt wären die lezten Monathe meines lebens ungefühlt oder mit schmerzen gefühlt dahin geflossen. Sie sind der Einzige übrige der mir deliberatâ mente angenehme stunden machet. Vormahls hatten Hagedorn, Croneke – dise Sorge für mich. Und dise Beyden segneten mich in briefen die sie mit sterbender hand schrieben, und so that unser Heß von Neftenbach. Klopstoken der von Gefühl zusammengesezt ist, hat weder Noah noch Jacob noch Rahel zum Fühlen für mich gebracht. Wieland fühlet für Riedel und Schah Baham. Hiesige Freunde fühlen für so viel Freunde daß mir wenig von ihrem Gefühl wird. Alle diese Leute ersezen Sie mir. Ich könnte stolz auf das lob in der Theorie seyn, wenn ich es nicht für Ergiessung der Freundschaft halten müßte; ich bin doch stolz darauf daß Sie aus überfliessender Freundschaft sich damit die Ausfälle der Riedels zugezogen haben. Es ist doch kein Scherz in das gericht dieser panurgen zu fallen.

Man hat mich gesehen meine Trauer über ihre so gefährliche Krankheit, und hernach mein Vergnügen über ihr neues leben, über alle, die mir begegneten, verbreiten, von Hr. bürgerm. Heidegger, Hhn Statth. Hirzel und Escher bis hinunter zu Orell und Otten. Der rechenschreiber Scheuchzer, Hans Escher mein Nachbar, Salomo Escher m. neveu, Dr. Hirzel, Director Schuldheß, Bürkli, lasen mein gerührtes Herz auf meinem angesicht. Meine Betrübniß war doch nicht eines menschen, der die Fassung der seele verlohren hat wie die Helden in der Galotti; ich hatte die stärke Ihre Grabschrift zu machen, und sie soll bis in ihr fünf und siebzigstes jahr nur auf einem Kenotaphio stehen:

Sulzer erhob die stimme; die grazien fliehn die gefilde,
Wo die Faunen, die Itifall', und die Idrisse wandeln;
Eh er's den Wizling beredt' entriss ihn der tod von der Erde.

Oder noch kürzer und gütiger, wiewol ich sonst nicht Thomsons Zärtlichkeit habe, der den dunsen und schmierern nicht weh thun wollte:

Der hier verwest, bestrafte die mit den Grazien unzucht
Treiben; er schützte die unschuld der apollonischen musen.

Meister hätte das bürgerrecht nicht ohne eine fletrissure bekommen, wenn es auf den Bergherr Scheuchzer angekommen wäre. Der gehässige mann wollte es ihm nur unter der Bedingung wieder geben, daß er nicht sollte meistern d. i. Zunftmeister machen dürfen. Aber selbst der gottselige blinde Rathsherr hat manch gutes Wort für Meistern geredet. Wir glauben mit dem guten Müller nicht halb so viel Widerstand zu haben. Die Meistern ein strengeres Urtheil haben machen wollen sagen izt, es wäre gottlos wenn sie den Müller harter strafeten als den Meister, da Müller sich nur gegen Menschen, wiewol die Oberkeit, Meister hingegen gegen die Religion und Gott versündiget habe. Dieses tönet bey unsern leuten. Meister wird in acht tagen wider nach Paris gehen, wo er einem secretariat entgegen siehet. Er hat uns die hoffnung benommen daß wir Montesquieux Timocrate, ein Ideal eines Staats, desselben Marc Aurel und memoires de ses voyages bekommen werden. Sein sohn, ein blöder Kopf, hält dise manuscript für gefährlich. Auch Marmontel darf mit seiner Dichtung von den yncas nicht an das licht. Die Encyclopedisten sind unter der Ruthe. Der König fällt in die bigoterie, und Maupeou begünstiget die Jesuiten. Tomas arbeitet an dem poëme auf den Czaar Peter. Sein Werk sur les femmes hat den Beyfall der Weiber nicht, und darum verwerfen es auch die Männer. Rainal der etliche schlechte Drames geschrieben, ist Verfasser der Histoire des Etablissemens dans les Indes. Choiseul hat ihm memoires gegeben. La felicité publique hat den Parisern nicht gefallen. Aber Voltaire erhebt sie. Die tragödie, Henuyer Evéque de Lisiez hat nicht gefallen, weil sie, sagen die Pariser, zu unmenschlich ist.

Was sagen Sie zu Lavaters physiognomik? Wir müssen den Zeichnern gute Worte geben damit sie uns nicht verdammliche Züge geben. Ich fürchte Schellenberg habe mich zum Dunse gezeichnet.

Lavater hat mich in dem lezten theil seiner Aussichten nicht in seinen himmel genommen in welchen er Zimmermannen und Pfenninger genommen hat. Eberhards apologie des socrates hat hier die Verständigen zu Gönnern, und sezet die Zeloten in bange Furcht.

Ich sehe mich nach einem Fuhrmann um, der die neue Noachide, die Geschichte der stadt Zürich, die gefühlreichen Erzählungen, zu ihnen bringen soll. Unser Übersezer von Arrians Epiktet findet keinen Verleger zur Übersezung des Simplicius.

Hr. bürgermeister Heidegger und Hr. statthalter Escher seufzeten daß Sie, mein theurer, nicht bey uns leben; ich selbst habe diesen Wunsch schon lange verseufzet.

Die Theilung von Polen giebt den Republiken unangenehme Aussichten. Bald wird ein potentat uns beweisen, er sey in gerad abstammender linie der Erstgebohrne von Noahs lezten Enkeln; und dann wird er das Erdreich in Anspruch nehmen. Wir Republikaner finden uns verleumdet, daß der Schweden und der Gothen König sich für den Eretter von der Aristocratie ausgiebt. Warum hat Er nicht die Reichstände gegen den tyrannischen senat angerufen? Und warum sind die Senatoren nicht lieber mit dem degen in der faust gestorben? Man sollte die Theilung von Pohlen nicht manifestirt haben. Wir hätten dann mehr geglaubt, als in den manifesten stehet.

Das Systeme de la nature hat in Paris kein Aufsehn noch Verfolgung verursacht, La Grange gehet mit aufgerichtetem Haupt herum. Aber in Genf, sagt Vernet, habe dieses materiale Buch durch seinen declamatorischen styl proselyten gemacht. Hollands reflexions philosophique sur ce systeme sind ganz zur rechten Zeit gekommen diese materialisten und naturalisten an den boden niederzulegen.

Obereid von Lindau hoffet, daß die philosophische schrift, die er Ihnen für die Academie zugefertiget, in ihren Händen seyn werde.

Unser Waser hat mitten in den hypochondrischen Anfällen die Übersezung eines neuen Toms des Lucians gelifert.

Wir sollten jährlich Gulden 2000 bis 2500. haben, vier lehrer der Kunstschule zu besolden; und unser ærarium ist seit weniger Zeit so sehr mitgenommen worden, daß uns dafür bange ist. Das Waisenhaus und das Zuchthaus fodern grosse summen. Die Kunstschule bekömmt einen Zeichnungs, und Modelliermeister, einen Lehrer der Naturalien und Materialien; einen Buchhalter; und einen französischen sprachmeister, der zugleich die geographia mit Absicht auf die produkte lehren soll. Wegen der neuen Einrichtungen der realschule ward Hr Canon: Breitinger extra ordinem zum magnifico gemacht. Derselbe hat [→]für diese schule eine logik, doctor Hirzel eine politik, Diacon Tobler eine morale, profess. Steinbrüchel eine grammatik geschrieben. Wir reduciren die fünfzehn parallelschulen. Uns fehlt noch ein Inbegriff der Weltgeschichte.

Wenn ich ihnen nicht gemeldet, daß ich das trauerspiel patroclus und die Übersezung von acht gesängen der Odyssee verfertiget, so geschah es, weil ich den Zuruf solve senescentem befürchtete. Ich werde aber mit diesen stücken nicht vor das publicum kommen, aus dem starken grund, weil ich keinen verleger habe. Es verdrießt mich nur daß ich nicht Sie statt des ganzen Deutschlands zum zuhörer haben kann. Seitdem unsere drey buchhandlungen in Eine zusammengeschmolzen, ward diese ein Monopolit. Es ist mit ihr kaum auszustehen. Daher hat Bürkli Spalding von der Nuzbarkeit des Predigtamtes nachgedrukt; er macht Mine auch Eberhards Apologie des Socrates zu druken. Er hält es für eine nicht ganz ungerechte bestrafung des buchhändlerischen Wuchers. Auf welche andere Art, sagt er, kann das publicum sich recht schaffen?

Ich habe für unsere helvetischen gerber (ich nenne sie so weil sie auf der Gerberzunft zusammen kommen) [→]die Geschichte der unruhen in den Ausrooden von Appenzell von 1732 geschrieben, wenn ich sie Ihnen lesen könnte, so hoffe ich Ihnen eine angenehme stunde zu machen. Und das wäre die schönste belohnung für meine arbeit. Ich habe mit diesen domestiquen nachrichten keine andere Absicht, als Sie dadurch wenigstens in Ihren Gedanken zu uns zu führen.

Ihr Bodmern.

Zürch den 14 Octob. 1772.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: »14 oct. 72.«

Eigenhändige Korrekturen

Männer. Rainal der
Männer. MercierRainal⌉ der
fünfzehn parallelschulen
fünf⌈zehn⌉ parallelschulen

Stellenkommentar

mein liebstes Kind
Der am 9. Februar 1728 geborene Sohn Hans Jacob, der 1735 starb.
Schah Baham
Figur in Wielands Der Goldne Spiegel, 1772.
panurgen
Figur bei Rabelais, durchtriebener Mensch.
in der Galotti
Lessings Trauerspiel Emilia Galotti, das im März 1772 uraufgeführt worden war. Bodmer publizierte 1778 die Parodie Odoardo Galotti, Vater der Emilia.
Bergherr Scheuchzer
Der Bergherr und Zunftmeister Johannes Scheuchzer.
der gottselige blinde Rathsherr
Salomon Hirzel (1700–1773), wegen seines Wohnhauses auch mit dem Zusatz »beym Regenbogen«, war seit 1763 Mitglied des Geheimen Rates.
daß wir Montesquieux
Bei den Schriften handelt es sich um unveröffentlichte Manuskripte aus dem Nachlass Montesquieus.
Sein sohn
Der älteste Sohn Montesquieus, Jean-Baptiste Secondat, der als Botaniker und Astronom wirkte.
Maupeou begünstiget die Jesuiten
Der französische Kanzler René-Nicolas-Charles-Augustin de Maupeou.
poëme auf den Czaar Peter
Die Abfassung eines epischen Gedichts auf Zar Peter I. unter dem Titel La Pétréide beschäftigte Antoine Léonard Thomas bis zu seinem Tod. Das Werk blieb unvollendet und erschien fragmentarisch in: A. L. Thomas, Œuvres posthumes, 1802, Bd. 1.
sur les femmes
A. L. Thomas, Essai sur le caractère, les mœurs et l'esprit des femmes dans les différens siècles, 1772.
Histoire des Etablissemens dans les Indes
[G. T. F. Raynal], Histoire philosophique et politique, des établissements & du commerce des européens dans les deux Indes, 1772–1774.
tragödie, Henuyer Evéque de Lisiez
[L. S. Mercier], Jean Hennuyer évèque de Lizieux: drame, 1772.
Lavaters physiognomik
[J. C. Lavater], Von der Physiognomik, 1772. In seinem Vorbericht zu Lavaters Abhandlung erwähnt Zimmermann ausdrücklich Sulzer und zitiert aus einem Brief von ihm vom 13. Mai 1772: »Eine Physiognomanie ist durch die Bekanntmachung dieser Blätter nicht leicht zu befürchten, wenn man erwäget, was mir neulich ein Philosoph ohne Bildsäule, Mantel und Bart, aber ein eben so großer Philosoph als irgend einer aus dem Alterthume (Herr Sulzer in Berlin) geschrieben hat: in Lavaters Physiognomik sind wirklich tiefsinnige Einsichten. Aber wehe dem, der glaubt daraus die Kunst zu lernen, wenn er nicht Lavaters Aug und Herz hat.«
Schellenberg habe mich zum Dunse gezeichnet
Der Illustrator Johann Rudolf Schellenberg lieferte – neben anderen Künstlern und Stechern – die Zeichnungen für Lavaters Physiognomische Fragmente. Vgl. Bodmers Porträt in den Physiognomischen Fragmenten, Bd. 4, 1778, S. 377.
die neue Noachide
Eine neuste, vom Verfasser verbesserte Auflage der Noachide in zwölf Gesängen von Bodmern war 1772 bei David Bürgkli erschienen.
Geschichte der stadt Zürich, die gefühlreichen Erzählungen
Bodmers für den Realschulunterricht konzipierte Schriften Geschichte der Stadt Zürich und Sittliche und gefühlreiche Erzählungen, 1773, ebenfalls bei David Bürgkli gedruckt.
Unser Übersezer von Arrians Epiktet
Johann Georg Schulthess.
keinen Verleger zur Übersezung des Simplicius
Schulthess' Übersetzung von Simplicius Epiktet aus dem Griechischen erschien schließlich 1778 bei Orell, Gessner, Füeßlin und Compagnie.
Theilung von Polen
Zur ersten Teilung Polens im Jahr 1772 vgl. Müller Teilungen Polens 1988, S. 26–43.
La Grange gehet mit aufgerichtetem Haupt herum
Nicht ermittelt. Sulzer vermerkte dazu in der Abschrift des Briefes: »Aber nicht la Grange, sondern der in Holland sich aufhaltende Granet ist Autor davon«. (ZB, Ms Bodmer 20.9–11).
sagt Vernet
Ein Brief Vernets mit entsprechenden Äußerungen an Bodmer, Breitinger oder andere Zürcher Gelehrte konnte nicht ermittelt werden.
Obereid von Lindau hoffet
Die Briefe Obereits an Bodmer und an Sulzer mit der dazugehörigen Beilage konnten nicht ermittelt werden.
Kunstschule
Zur 1776 eröffneten Zürcher Kunstschule siehe [Leonhard Meister], Nachricht von der öffentlichen Kunstschule in Zürich. Zur Empfehlung einer besondern Parallelschule, 1776.
für diese schule eine logik [...] eine grammatik
[J. J. Breitinger], Catechetische Anweisung zu den Anfangsgründen des richtigen Denkens. Für die Real-Schulen, 1779. – [H. C. Hirzel], Catechetische Anleitung zu den gesellschaftlichen Pflichten. Für die Kunst-Schulen, 1776. – [J. Tobler], Christliche Tugend-Lehre in Frag und Antwort. Für die Real-Schulen, 1773. Eine Grammatik Johann Jacob Steinbrüchels konnte nicht ermittelt werden. Bodmer selbst publizierte 1773 Biegungen und Ausbildungen der deutschen Wörter. Für die Real-Schulen.
drey buchhandlungen in Eine
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1770-12-00.html.
die Geschichte der unruhen [...] von 1732
Bodmers handschriftliches Manuskript Geschichte der Unruhen in den äußern Rhoden in den Jahren 1732–1733 (ZB, Ms Bodmer 35.11) wurde publiziert in: A. Tobler, Ein Beitrag zur appenzellischen Geschichte der Jahre 1732 und 1733, 1891, S. 15–52.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann