Brief vom 21. September 1765, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 21. September 1765

den 21sten Sept. 1765.

Die schwachheiten der jungfer M. gehn mir desto mehr zu Herzen, weil sie gewissermassen mir zur last fallen. Ich hatte sehr auf ihr gutes herz vertraut und nicht geglaubt daß eben scharfer verstand erfodert würde, den detail einer haushaltung zu besorgen; zumal da man solche vorschriften über das Hauswesen und die Erziehung hat. Ich war ihretwegen seit einiger Zeit ganz beruhiget, weil ich von ihren leuten hörete, daß sie mit Ihnen, mit sich selbst, mit den Töchterchen ganz zufrieden wäre, und vom Heimweh kein wort mehr. Sie schien nur bekümmert wegen der vielen Besuche, die ihr haus bekömmt; wegen der öfteren Repas die sie geben; und wegen der häufigen Geschäfte so Sie in die grosse Welt abrufen, und Ihrem Hause rauben. Fern war daß sie selbst Neigung gezeiget hätte Gesellschaften ausser dem Haus zu suchen. Sie klagte über die fourberies schlechter leute, von welchen sie im Einkaufen und in der Bestellung des details hintergangen würde. Der große aufwand schien ihr selbst zu unmässig, und sie wünschete daß der Hr. professor Geduld nähmen ihr Tagbuch einzusehen, vornehmlich wenn ein Repas von ihnen gegeben worden. Neulich hab ich von Tanten oder solchen personen gehöret, (vielleicht sind es dieselben, welche Ihr haus und ihr eigenes für eines ansehn.) welche die Jgfr. M. controllieren, und dieses hat mir gedanken verursacht. Wie leicht ist es daß auch ein verständiges junges Frauenzimmer an einem fremden Orte, wo sie keine Vertraute ihres Geschlechtes hat, die dupe der Mägde und der Calomnie werde. Ich habe von den weiblichen Vapeurs seltsame geschichten gehört, was für sotte grillen sie gebrütet haben: doch kann ich nicht glauben daß ihre vorsätze und hoffnungen sich auf die person geworfen haben, wo sie eben am phantastischen angebracht wären.

Dieses alles machet mich sehr verlegen. Ich stehe so sehr auf dem trokenen daß ich nicht weiß was ich sagen soll, wiewol ich um meiner selbst willen, da ihre Ruhe, mein Freund, und ihr Verdruß mich beynahe wie meine eignen afficieren, gern einen Rath erdächte. Geduld, erzwungene Geduld, ist ein allzu bitteres mittel sich durch dieses verdrüßliche leben fortzuschleppen. –

Wäre es Grausamkeit, oder Übereilung, wenn sie ihr geradezu heraussagten, wo es fehlt, und was sie verlangen. Gesezt sie würde dadurch so niedergeschlagen, daß Heimwehen entstühnden, so könnten wir davon einen guten Gebrauch machen. –

Sie müssen schlechterdings nicht leiden, daß sie ihren töchterchen eine Künstliche, Gelehrte, Gefühlschnazende Erziehung gebe. –

Oder, schreiben sie mir das præcis was sie ihr wollen gesagt haben, damit ich es ihr in einem schreiben an sie vorstelle. Wir würden so wenigstens ein schriftliches bekenntniß ihrer denkungsart von ihr bekommen ... Gieng es nicht izt schon an, daß sie die Jgfr. M. mit ihren Töchtern in das neue landhaus schiketen zu wirthschaften, sie selbst mit aufhebung der Haushaltung sich einen fremden Tisch sucheten? –

Vormals hatte ich den Einfall, daß sie ihre Kinder in die Schwyz schiken sollten, wo sie eine schweizerische Erziehung haben könnten; Aber zu was für menschen, bey welchen sie versorget wären, und wie viel müste die väterliche Affektion dabey leiden? –

Ich kann mir ihr haus und ihre lebensart nicht in dem rechten Gesichtspunkt vorstellen, daß ich mich nicht leicht betröge. Wären sie, mein liebster Sulzer, nicht par devoir genöthigt, große und häufige Besuche zu machen und zu empfangen, Mahlzeiten zu geben, und bey andern zu speisen, so würde ich sagen, sie sollten zu haus in sich und der kleinen gesellschaft ihrer Kinder und ihrer bücher, der Todtlebendigen, die republikanische Einfalt, die Frugale Wirthschaft, die stille Eingezogenheit geniessen, die sie so hoch loben und lieben. Ist es unmöglich, daß sie sich selbst zu mehr Einsamkeit, und weniger Zerstreuung helfen, ohne daß sie sich selbst, oder der Freundschaft, oder den Pflichten, Gewalt thun? –

Wenn sie sind wie ich, so ist der detail der Wirthschaft für sie ein so kleines, so fremdes Object, daß bey allen theoretischen Begriffen davon die schwierigkeiten in den Umständen ihnen ganz verborgen bleiben müssen. Wollte Gott, daß sie in dasigen gegenden eine person fänden, welcher Sie ihr Hauswesen und die Erziehung mit vollem Vertrauen übergeben könnten; für die Jgfr. M. liessen sich schon auskünfte ersinnen.

Was ist das für eine Condition, die Hr. Meiner-Otto durch sie bekommen und nach kurzer Zeit wieder verlassen hat? Ich höre, der Bruder der Jgfr. M. trage sich mit dem Einfall sein successor zu werden. Sie sehen wie ich im Nebel herumfahre aus begierde etwas gutes zu ihrer Beruhigung zu erdenken. Ich entdeke von diesen dingen keinem Menschen etwas weil sie es so gut finden; ich glaube doch daß sie im nachdenken finden könnten, es wäre nüzlicher sich darüber gegen einige personen zu eröffnen.

Sie werden aus Leipzig von Orell und Geßners Commissar ein Pak bekommen, in welchem sie sehen werden, was für Anstalten ich erdacht habe, den Fehlern in der Noachide zu helfen. Ich bin erstaunt über die Mühe und die Kosten, so sie für dieses Werk angewandt haben. Ich zweifle daß man mehr Arbeit haben müste das elendeste Buch einem Verleger zu empfehlen. Wenn mein gedicht nicht beyfall findet so gesteh ich Ihnen, daß es Unvermögen, und Untüchtigkeit an mir ist, etwas zu schreiben, das dem besten Geschmack der deutschen anständig seyn könnte. In unsern Buchladen ist starke nachfrage darnach. Ich bin izt so geschäftlos daß ich bloß spielend und muthwillig stücke aus dem Gedicht herausnehme und andere einschiebe; von dieser Natur sind die toechter des paradieses. Oh! ich geniesse die stille Einsamkeit mit der einzigen Unruhe sie derselben so sehr beraubt zu wissen. Der gute Pfarrer Schuldheß von Stätfurt hat auch seine Noth; sein Weib ist jüngst von ihm weggelaufen ohne Adieu zu sagen. Sie ist eine Frau wie unser Künzli von einer gewissen Diaconesse sagte, daß sie immer zum mann rufe: Schaff mir Kinder oder ich sterbe. Izt ist sie zwar wieder bey ihm, doch hat er die Maximen des Arrianus, den er übersezt hat, recht sehr nöthig. Er hat sie so lang als ein verliebter Gek tractirt, daß sie darüber zur närrin geworden. Er ist hen-peckd. Er ist nicht weit von Wegelins fato, und hat seine Geduld.

Der monströse Ott in der Schipfe ist auf dem land unter der Hand eines Narrendoctors. Er hat einer Magd, die er geschwängert, Ehpfänder gegeben, und will sie heurathen. Die heurath zu hintertreiben wollte man das Ehgericht gern bereden, daß er nicht bey sinnen wäre. Aber diser Tribunal hat erkennt daß er sich persönlich stellen müsse.

Noch eins von der Jgfr. M. Ich zweifle nicht sie habe offenbare Proben von ihrem Unvermögen und ihrer Untüchtigkeit, von ihren elenden Phantasien und Vorsäzen gegeben, Sie würden sonst nicht so positiv reden; also nehm ich dieses an. Sonst weiß ich allzu wol, was für tracas aus mißverstand und mißdeutung entstehn kan. Sie dünkt mich am meisten fehlbar, daß sie Freundinnen, zu welchen Sie ein so volles Vertrauen haben, sich nicht mit der gehorsamen gelenkigkeit überläst. Es wäre doch überaus gut, wenn sie sich entschliessen könnten, eine specificirte Rechnung von einem Monat oder nur einem Repas mit der gehörigen Geduld einzusehen.

Hr. Bürkli hoffet, daß Sie seinen Brief empfangen haben, in welchem er ihnen seine dankbaren Empfindungen für Ihre Güte vorgestellt hat. Er ist mir recht lieb.

Rahn, der schon etliche Wochen hier zurük ist, hat sich bey mir einmal gemeldet.

Sie bauen einen Meyerhof mit der leichtigkeit wie ihn unsereiner dichtet, können sie erschaffen, oder ist die gegend an der Spree eine paradiesische Wildniß, die nur nöthig behauen und gebildet zu werden.

[→]Spielte durch deine Hand die Natur jungfräuliche spiele
Die sich des Nachts beym silbernen licht des mondes dich lehrt,
Oder in heiligen schatten des Haines, in welchem die Muse
Ihren Liebling besucht, und den dichter besucht, den du liebest,
Welchem der Frost von siebenzig jahren das dichtrische Feuer
Nicht gedämpft hat; sie sagt ihm noch jüngst, was die siphaitinnen
Fühlten als sie in den schatten der Paradiesischen rosen
Plözlich das Wunder erblikten, die fremde bildung des Jünglings pp.

Ich umarme sie von dem Zürichberge bis an die Spree.

P. S. Ich habe der Jgfr. M. auf ihren brief noch nicht geantwortet.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Anschrift

A Monsieur Soulzer profess. dans la nouvelle Acade mie des jeunes Gentilshommes p. à Berlin francho Nrnbg.

Vermerke und Zusätze

Siegel. – Blatt an Siegelstelle abgerissen.

Eigenhändige Korrekturen

ich mich nicht leicht
ich mich ⌈nicht⌉ leicht
entdeke von diesen dingen
entdeke doch von diesen dingen
Phantasien und Vorsäzen gegeben,
Phantasien und Vorsäzen ⌈gegeben⌉,
daß sie Freundinnen
daß sie sich Freundinnen
Liebling besucht
Liebling gerne besucht

Stellenkommentar

Repas
Übers.: »Mahlzeiten«.
fourberies
Übers.: »Hinterlist, Betrüge«.
Tagbuch
Hier: Haushaltsbuch.
dupe
Übers.: »Betrogene, Opfer«.
Calomnie
Übers.: »Verleumdung«.
Gefühlschnazende
Schnatzen oder schnetzen: »schmücken, aufputzen«. – Schweizerisch auch für »plaudern«.
par devoir
Übers.: »aus Pflicht«.
eine Condition, die Hr. Meiner-Otto
Gemeint ist Johann Heinrich Ludwig Meierotto, der bis 1762 Schüler Sulzers am Joachimsthalschen Gymnasium war und von diesem gefördert wurde. Meierotto gab 1765 seine Stelle als Bibliothekar auf und wurde für einige Jahre Erzieher der Kinder des Bankiers Schickeler. Auf Sulzers Vermittlung hin wurde er 1772 zum Professor der Beredsamkeit am Joachimsthalschen Gymnasium berufen. Vgl. zu Meierotto auch Brief letter-sb-1775-05-29.html. – Brunn (Hrsg.) Lebensbeschreibung Meierottos 1802, S. 65.
successor
Nachfolger.
die toechter des paradieses
[J. J. Bodmer], Töchter des Paradieses, 1766.
sein Weib
Johann Georg Schulthess war seit 1752 mit Anna Gossweiler verheiratet.
Künzli von einer gewissen Diaconesse
Vermutlich die Frau des Diakons Johann Heinrich Waser.
die Maximen des Arrianus
Vgl. J. G. Schulthess, Arrians Epictet, 1766.
hen-peckd
Engl. henpecked. Übers.: »Unter dem Pantoffel stehen«.
Wegelins fato
Zu den Problemen in Wegelins Ehe vgl. Brief letter-sb-1763-03-14.html.
Der monströse Ott
Zu Felix Ott vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1763-12-15.html.
tracas
Übers.: »Sorgen, Besorgnisse«.
seinen Brief
Nicht ermittelt.
Spielte durch deine Hand
Bodmers Gedicht wurde unter dem Titel An Sulzers Meyerhof an der Spree in Johannes Bürklis Schweitzerische Blumenlese (1780, Erster Teil, S. 70–74) publiziert.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann