Datum: 14. März 1763
Lindau den 14 März.
Gestern Abend sind wir nach einer ziemlich beschweerlichen Reise hier angelanget. Am Freytag haben wir von St. Gallen aus in Begleit des rechtschaffenen Pr. Wegelins unsre Wallfart nach der Hütte des Philokles angestellt. Meine Freüde diesen würdigen Greisen zuumarmen war groß und mit starker Zärtlichkeit verbunden; die seinige mich und mit mir die Patrioten zu sehen, war ungemein. Selbst der ehrliche Laurenz war voll Freüde und sagte uns, wie ofte Philokles ihm von unsrer Ankunft gesprochen habe. Wir sind bis gegen den andern Mittag in Trogen geblieben. Philokles war ganz Munterkeit. Er hat den Geist eines Mannes in seiner Beste, und scherzt noch, wie ein solcher. Der Abschied von ihm hat mir, so wie meine erste Ansicht, Thränen der Zärtlichkeit gekostet. Ich habe ein Geschenk an Büchern von ihm, mit seiner Handschrift versiegelt. Es hat mich doch mitten in dieser Seeligkeit beunruhiget, daß Sie nur im Geist gegenwärtig unter uns gewesen.
Wegelin ist ein ganz braver Man, [→]aber ein unglüklicher Eheman. Über seine Gespräche hat er keinen Verdruß mehr. Sie sind in St. Gallen schon veraltet. Unsre junge Patrioten sind allezeit sehr vergnügt. Das Päkgen mit Geld habe ich von Hrn. Lavater empfangen und werde bestens für den guten Gebrauch deßelben sorgen. Obereidt hat gestern abend bey uns geeßen und ist der Hanswurst eines seltsamen Lustspiels gewesen. Er scheint mir noch närrischer als vor 12 Jahren. Wir verreisen nun gleich wieder und gedenken Morgen abend in Augspurg zuseyn. Wieland hält sich noch an seinem Posten. Da komt Obereidt schon wieder, ob es gleich erst 6 Uhr des Morgens ist.
Adieu empfehlen Sie mich unserm Hrn. Can. Breitinger.
Sulzer.
Überlieferung
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.
Anschrift
Herrn Profeßor Bodmer in Zürich
Vermerke und Zusätze
Siegelausriss.
Eigenhändige Korrekturen
- aber ein unglüklicher
- aber ⌈ein⌉ unglüklicher
Stellenkommentar
- unsre Wallfart nach der Hütte des Philokles
- Sulzer und seine Reisegefährten kamen am Freitag, den 11. März 1763, bei Laurenz Zellweger in Trogen an und reisten am darauffolgenden Tag nach Lindau weiter. Vgl. dazu Zellwegers Bericht in seinem Brief an Bodmer, Trogen, 12.--14. März 1763 (ZB Ms Bodmer 6a, Nr. 509). – Der Brief fängt mit einer Eloge Sulzers an: »Si j'etois le Grand Frederic, Soulzer seroit me principal ou plutot mon unique confident, je le ferois assister à mon lever & à mon coucher, à mon diner & à mon souper, & je l'obligerois d'etre present à toutes mes occupations & à tous mes divertissemens, la Solidité des ses pensées, la noblesse des ses Sentiments, les graces des ses discours ou expressions, de sa mine, des ses gestes & de toute son maintien, sa droiture de Coeur, ravissent & enlevent le coeur & l'ame p«. Übers.: »Wäre ich Friedrich der Große, dann wäre Sulzer mein wichtigster, oder eher mein einziger Vertrauter, ich ließe ihn meinem Aufstehen und Zubettgehen, meinem Mittag- und Abendessen beiwohnen, dazu machte ich ihm zur Pflicht, bei allen meinen Beschäftigungen und Unterhaltungen anwesend zu sein. Die Standhaftigkeit seiner Gedanken, die Erhabenheit seiner Empfindungen, die Grazie seiner Reden oder Ausdrücke, seiner Miene, seiner Gebärden und seiner ganzen Haltung, die Rechtschaffenheit seines Herzens entzücken und entführen das Herz wie die Seele«.
- ein unglüklicher Eheman
- Wegelin war seit 1750 mit Sabina Elisabeth Täschler verheiratet (Geldsetzer Ideenlehre Jakob Wegelins 1963, S. 79).
- der Hanswurst eines seltsamen Lustspiels
- Vgl. dazu auch Obereit an Bodmer, 22. März 1763: »Ich habe mit dem hochwerthesten Herrn Prof. Sulzer und seinen tapfern helvetischen Begleitern einige der aufgeräumtesten Stunden des Lebens zugebracht. Sie haben mich des jezigen Friedens zu besingen aufmuntern wollen, allein ich bezeigte keine Lust dazu, ausser ich würde von Regenspurg und Wien die Abschaffung des Despotischen als eine gerechte, doch nicht zu hoffende Folge vernehmen. Da dieses nicht anging, so sollte ich mit aller Gewalt in völligem Ernst eine so feüerspeyende poetische Satyre wider den Graf Kauniz machen wie sie wider den ungerechten Landvogt, worüber sich Kauniz wie ein andrer Lycambes selbst erhängen sollte. Allein zu allem Unglük fand sich das Gemüth der heutigen Keinnüze unempfindlich gegen alles Feüer der Satyre, wenn es auch auf gut griechisch verschwendet würde. [...] Friedrich ist kein Brutus. Und wer sollte oder könnte es sonst seyn? Nur einen Brutum wollte ich anfeüern. Das belieben Sie nur immer noch als meine standhafteste Erklärung nach Berlin zu vermelden« (ZB, Ms Bodmer 4a.10, Nr. 57).
- närrischer als vor 12 Jahren
- Entweder kannte Sulzer Obereit bereits von dessen Aufenthalt in Berlin (1747–1750) oder von seiner Reise in die Schweiz im Jahr 1750.
Bearbeitung
Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann