Mein Willkommener Freund.
Welcher festliche Anblik wäre es für mich gewesen, wenn ich der ersten umarmung von H. Schuldh., H. Rector, und Hr. stadtschr. hätte zusehen können! Wie wäre mein herz mit den ihrigen in Zärtlichkeit zerfloßen! Izt werden Sie sich wol von dem gewaltthätigen, und hinreißenden Anfall der starken Empfindung erholet haben. Bald wird auch die Arbeit der Bewillkommnung in ihrer Vaterstadt überstanden seyn, und denn werden sie mit ruhigerm gemüth und mit voller Muße ihrer erwählten Freunde seyn. Auf diese müßigen stunden schike ich ihnen die andere helfte der Noachide, dem rechtschaffensten und besten von 7. oder 8. Freunden, die sich mit ihnen in diese poetische Arche einschließen laßen. Ich habe einen langen Wintertag nöthig ihnen alles zu sagen, was mir dieser gesänge wegen auf dem herzen liegt; und gewiß haben Sie mir nicht weniger zu sagen. Aber ich liebe unsere Freunde von da so herzlich, daß ich Sie nicht bitten will, wieder zu uns, hieher zu eilen, wiewol ich dieses von ganzem Herzen wünsche. Ich sehe es für die sanfteste Gutthat der Vorsehung an, die mir in meinen lezten jahren, nach dem ich lange genug gewartet hatte, gegönnet, daß ich sie sehen und hören und fragen und antworten kann. Ich mache mit mir selbst und mit meiner Liebsten Entwürfe, wie ich Sie am ruhigsten, am sichersten, am nächsten bey mir, genießen könne. Ihr vorschlag vor der stadt zu wohnen gefällt mir nicht, weil er sie zu weit von mir entfernen würde. Wenn sie auch gleich eine anständige gelegenheit auf dem Hottinger–Boden, in dem landhause H. hauptmann Schuldheßen, des bruders unsers freundes haben könnten, (H. directors); so wäre ich nur halb damit zufrieden. Ich sinne immer auf einen modum vivendi, wie ich sie bey mir in meinem Hause haben könne; noch habe ich wegen Altersschwachheiten, nicht eben meiner eigenen, sondern meiner ältern Hausmutter nichts entschließen können. Izt empfinde ich stark, was ich schon mehrmals empfunden habe, wie unglücklich es für mein Alter, und für gewiße umstände des Alters gewesen ist, daß von drey töchtern, die meine frau mir gebohren hat, nicht eine übrig geblieben, uns in diesen Hulfbedürftigen Tagen die hand zu reichen. Villeicht findet sich auch dafür rath: so bald ich etwas ausgefunden habe, will ich Ihnen davon nachricht geben. Wenn ich glauben könnte, daß Hr. Rector mit mir unzufrieden wäre, weil einer von unsern großen freunden sich nicht unserer Erwartung gemäß bezeiget hat, so glaubte ich doch zugleich daß sie mich bey ihm augenbliklich wieder ausgesöhnt haben würden. Alle Macht der demonstrationen reichet nicht zu, den Willen des menschen zu lenken, der das, was man ihm demonstrirt, schon zuvor wuste, aber seinen Entschluß schon genommen hat. Sie mein wehrtester, können ihrer geburtsstadt keinen größeren dienst thun, als wenn sie die beyden, die drey, rechtschaffenen männer von da aufmuntern auf Instituta zu denken, und wenn sie selbst mit Ihnen darauf denken, durch welche die denkensart der jungen menschen gebeßert wird. [→]Redressez les opinions et les moeurs s'epureront d'elles mêmes. Wenn dieses der lezte dienst seyn sollte; den Sie ihren Mitbürgern thun, so wird es doch der längste seyn, der sich auf viele künftige jahre erstreken wird.
Man erzählt daß [→]Rousseau künftigen Frühling nach Zürich kommen will. Man redet schon von dem haus und den zimmern, die er einnehmen soll. Er soll eine vortrefflich gute meinung von dem charakter unserer leute haben. Es ist mir nicht wol dabey, ich fürchte daß er uns in der Nähe kleiner befindet, als wir gern scheinen wollen. Geßner, Kleinjok, Abel und die Idyllen ruft er aus. –
Wieland hat in der samml. seiner poesien, von welchen izt der dritte Theil gedrukt ist, ordentlich die stellen ausgemustert, die meiner erwähnten. Wie er mich ohne Noth hervorgezogen, also verwirft er mich wieder ohne Noth. Vor seiner Johanna Gray hat er eine seltsame Vertheidigung gesezt. Er verstellt die Einwürfe, die man ihm gemacht, daß sie läppisch werden, dann triumphirt er sie zu wiederlegen. Meine Gray muß ihn aus sich selbst gebracht haben.
Adieu. Leben sie in dem schooß ihrer Mutterstadt so munter und aufgewekt, daß auch ihre freunde von ihrer Munterkeit angesteckt eben so aufgeräumt und vergnügt leben. Sie umarmt
Ihr Ergebenst. diener.
Bo.
Zürich den 9. Sept. 1762.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.
Zweiter Teil von Bodmers Noachide (handschriftliches Manuskript).
Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite »9 Sept. 62.«