Brief nach dem 18. April 1761, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: nach dem 18. April 1761

Mit den Meßwahren habe ich das denkmal und dabeÿ gelegte sachen wol erhalten. Welcher Maßstab ligt darinnen die grösse ihres verlustes zu bestimmen! Ich gehe in einigen wochen nach Winterthur; da wollen wir über den vorsaz ihre l. Kinder in die schweiz zu bringen, rathschlagen. Aber können sie sich entschlissen von dem allerliebsten nachlasse entfernt zu leben? und wenn sie gedenken selbst beÿ uns zu bleiben, können Sie sich entschlissen, beÿ uns ohne Amte zu leben?

Aber die gröste schwierigkeit ist, die rechtschaffenen leute zu finden, die vernünftig und väterlich für die liebsten kinderchen sorgen. Die bequemste person, die ich kenne, wäre die Wittwe des doctor Malvieux von Brenzlau, die izt beÿ ihrem Vater dem pfarrer Meister von Küßnacht, ehmals le Maitre, lebet. Sie hat eine schwester die auch sehr vernünftig ist, das ganze haus ist moralisch. Der sohn, ein studiosus classis theologicae ist beÿ h. director schuldheß en pension, und dieser hat eine tochter von 10. Jahren zu ihm en education geschickt. Er der pfarrer ist mein getreuer Achates von jugend auf gewesen.

Das ist das haus, in welches sich die Jgfr. Pelisson gern flüchten wollte, die verstorbne frau des pfarrers war schwester ihrer mutter. Das ist eine Angelegenheit, die Er gern durch ihre hülfe befödern wollte. Ich denke Sie haben wol eine vertraute person, durch welche sie diese sache mit der nothwendigen Klugheit können besorgen lassen. Hätte ich zehn jahre weniger, (und meine liebste hat dreÿ jahre mehr als ich,) so wollte ich das vergnügen haben für die Zweige unserer theuern verstorbenen durch mich selbst zu sorgen. Izt habe ich selbst hülfe nöthig. Die Altersbeschwerden stellen sich ein. Singula de nobis anni prædantur euntes. Ich hatte nicht erwartet so lange zu leben, und noch weniger so angenehm seitdem mir die freüde meines lebens entrissen worden. Ich könnte ihnen sagen, wie gütig, wie weise, die vorsehung durch den verlust selbst für mich sorgete. Ich dancke ihr auf den knien für das was ich die Impertinenz hatte Unglück zu nennen. Es war in der that impertinenz, dummheit, und kein böses gemüthe. Wie lange müssen sie noch leben bis sie mein alter erreicht haben, der schmerz tödet nicht und leüte die keine schlimmen passionen haben, leben lang. Wird die gesellschaft, die grosse Welt, ihnen nicht wieder nothwendig werden?

Suter wird ihnen etwas von mir gebracht haben, sie sollen überdies einen brief vom 8. april von mir empfangen haben. Mit der ersten Gelegenheit schike ich meine trauerspiele, gedruckt. Meinen Marcus Brutus lese ich meinen Freunden in der handschrift. Dieses stück hat die schwarzen verbrechen, die abscheülichen Zufälle, nicht, welche in einigen von meinen andern trauerspielen hervorstechen. Ich gebe aber auch diese Arbeiten für nichts anders als für societätischen luxum. Rousseau allein kann ihnen sagen, was ich dadurch verstehe. Doch meine schwerzesten personen sind unschuldiger als Klopstoks teufel. Es ist ein wunder wie ein mann von den zärtlichsten saiten des Herzens sich aus dergleichen Arbeit nicht nur ein geschäft sondern einen Zeitvertrieb machen kann. Wenn es Eifer für die verbesserung der menschen ist, so muß dieser Eifer recht feurig, und verzehrend beÿ ihm seÿn.

[→]Mein Ulÿsses und meine Electra sind in Wienn, oder Leipzig für Wienn nachgedruckt worden. Als Autor habe ich nichts dagegen. Wegeli hat Montesquieu gegen Iseli gerettet, oder vielmehr hat er den Iseli gezüchtiget.

Je mehr ich nachdenke je weniger kann ich begreifen, daß es ihnen möglich seÿ sich von den süssen pflanzen ihrer einzig geliebten zu entfernen. Würde diese Entfernung viel von dem Tod derselben unterscheiden seÿn? Denken sie sich, ihre verstorbene seÿ zu Zürich oder Neufchatel, wenn das würklich wäre würden sie ruhiger seÿn? Sie ist doch an einem bessern Ort, und der Weg zu ihr ist näher. Wollten sie denn beÿ ihnen und beÿ uns bleiben, so müsten sie ein Anachoret, ein solitaire werden. Das sind sie doch nicht gewohnt, und nicht dazu bestimmt. In der Entfernung dünken wir ihnen mehr als sie uns finden würden. Der frieden kömmt so langsam, daß wir übrig Musse haben, der sache nachzudenken. Erklären sie sich gegen ihre freunde in Winterthur etwas weitläuftiger. Leben sie gerne beÿ uns, gern in der Oede, in welcher ein geist lebt, der nouvelles Heloises denken kann. Ihre Geliebte lebt an einem Orte, wo unsere jahre kaum stunden sind, die weile kann ihr nicht lang werden bis Sie kommen. Ich habe die nächste Ansprache auf die Abreise. Mein philocles steht in procinctu, sein körper ist schier zerstört, aber sein geist scheint dadurch gewonnen zu haben. Wenn Philocles stirbt, so muß ich doch einen andern philocles haben, und wer kann der seÿn wenn es nicht Theocles ist? Verlassen sie nicht

Ihren Freünd.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a.

Eigenhändige Korrekturen

Er der pfarrer ist mein
Er |der pfarrer| ist mein

Stellenkommentar

die Wittwe des doctor Malvieux
Albertine Charlotte Meister, Tochter von Johann Heinrich Meister und Witwe eines nicht näher ermittelten Doktors M. Malvieux aus Leipzig.
schwester
Nicht ermittelt.
getreuer Achates
Figur der römischen Mythologie, Gefährte des Aeneas (Verg. Aen. I, 120).
die Jgfr. Pelisson
Nicht ermittelt.
Singula de nobis anni prædantur euntes.
Hor. epist. II, 2, 55. Übers.: »Eines nach dem anderen erbeuten von uns die dahingehenden Jahre«. (Horaz, Buch 2 der Briefe, 2018, S. 601).
die freüde meines lebens
Bodmers 1735 verstorbener Sohn Hans Jacob.
Klopstoks teufel
Zur Rolle des Teufels bei Klopstock vgl. Osterkamp Lucifer: Stationen eines Motivs 1979, S. 131–178.
Mein Ulÿsses und meine Electra
Vgl. den ohne Verfassernamen in Wien bei Johann Friedrich Jahn herausgegebenen Nachdruck [J. J. Bodmer], Ulysses, Telemachs Sohn, 1760. Ein Nachdruck der Electra konnte nicht ermittelt werden.
Montesquieu gegen Iseli gerettet
Vgl. die Rezension von Iselins letztem politischen Versuch. In: Freymüthige Nachrichten, 17. Juni 1761, St. 25, S. 188–191 u. 24. Juni 1761, St. 25, S. 195–199. Die von Wegelin verfasste Rezension kritisiert eingehend das negative Urteil, das Iselin über Montesquieu fällte.
nouvelles Heloises
Anspielung auf Rousseaus Schrift Julie ou la nouvelle Héloïse. Der Briefroman erschien, nach einem zensierten Pariser Druck, im Februar 1761 in Amsterdam bei Marc-Michel Rey unter dem ursprünglichen Titel Lettres de deux amans, Habitans d'une petite Ville au pied des Alpes. Bereits die im selben Jahr gedruckten Neuauflagen tragen den neueren, erfolgreicheren Titel, der die aufgegriffene Traditionslinie von Abaelardus und Heloisa, Epistolae duorum amantium (um 1100), deutlicher macht.
in procinctu
Übers.: »in Bereitschaft«.
Theocles
Anspielung auf Theocles und Philocles, Hauptfiguren in Shaftesburys Moralists.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann