Mein werthester Freund.
Herr provisor, durch den ich worte und werke, [→]et tous les moindres mots et tous les moindres faits von ihnen gewärtig bin, wird kaum in ein paar wochen noch hier seyn; also weiß ich noch nicht, wie sie alle die ⟨wunderlichen⟩ sachen, die ich Ihnen disen leztern sommer gesandt habe, empfangen haben. Ob ich nun gleich von weitem vernehme, daß gewisse leute sehr übel mit disen poetischen stüken zufrieden sind, so bin ich doch in meinem gewissen deßwegen ganz ruhig. Es sind leute ohne sitten und von schlechter denkart. Es ist die güte gottes, die machet daß wir so wenig mit ihnen, als sie mit uns harmonieren. Allhier ist man noch am besten mit uns zufriden. Wir haben den kleinen Geßner, und Werdmüller beynahe conquetirt. Jener hat eine schäferey geschrieben, in welcher eine recht unschuldige tugend herrschet. Diser hat die 4 stufen des menschlichen Alters recht geschikt und im orientalischen stylo verfertiget. Nur der Dr. Theriak bleibt zurük, und spricht uns bald die poesie bald die Critik ab. Wielands geprüfter Abraham hat nicht auf die Messe kommen mögen; noch die Gebete des Deisten und des Christen. Er hält sich noch bey mir auf, und redet noch nichts von scheiden. Wir haben nichts weiter publicirt, und eben so wenig gearbeitet. Man hat uns furcht erweket, wir überhäufeten die welt mit guten sachen: doch habe ich noch etliche alte sachen, das drama von dem erkannten Joseph und dergleichen, das ich diesen Winter unter die presse geben will. Hr. Diacon Waser hat mehr Briefe von Casperles Vater aufgejagt, die uns viel freude gemacht haben. W. hat einen ironischen brief wider die Zulika geschrieben. Meine freunde haben gefunden, daß er damit viel ehrliche leute verführe. Der verführung zu wehren schreibt er izt verschiedene briefe von der Einführung und dem Einflusse des Chemos und andern psychologischen stüken dises gedichtes. Weil mir verboten wird mehr gedichte zu schreiben, so werde ich desto mehr fleiß an die Herausgebung der Minnesinger wenden. Wir sind noch ohne antwort von Klo. Rahn hat jüngst seinen dritten bruder nach Kopenhagen berufen. Diser war ehmals in sardinischen diensten. Er soll unter die garde des dähnischen Königes kommen.
Izt komme ich auf die hauptsache, welcherwegen ich die Feder ergriffen habe. Mein liebster Freund, Hr. Ott, meldet mir mit ungemeiner freude, daß der Hr. Escher in ihrem hause sey. Ich hoffe sie werden finden, daß dieser junge mensch ein sehr gutes gemüth und liebenswürdige sitten hat. Er ward zwar nicht nach Hr. Ottens sondern nach ganz anderer leute Begriffen erzogen; und darum mag es ihm an einigen orten fehlen. Aber ich glaube daß sie durch eine kleine geschikte lenkung einen wakern menschen aus ihm machen können. Arbeiten sie doch an ihm mein wehrtester freund, daß er von den unsern werde. Zeigen sie ihm das angenehme der tugend, der freundschaft, der Religion – und endlich der poesie. Durch ihn könnten wir hier noch viel gutes ausrichten. Sagen sie ihm nur daß ich Ihnen seinethalben auf diesem Ton geschrieben habe, und daß es mir angenehm seyn würde, wenn er mir einmal etliche zeilen von dem Zustand der schönen Wißenschaften in Braunschweig, Berlin &.c. zuschriebe. Sein Herr vater ist mir vorzüglich lieb; und ich kenne nur wenige, die es so gut verdienen.
Hr. Wieland hat den Junker Gerichtschr. Meyer den Fabeldichter gesehen, und ist gar gut mit ihm abgekommen. Wir denken seine Fabeln neu aufzulegen, mit einer abhandlung vom naifen, die etwas sagen soll.
Wir haben VI. Gesänge eines ital. gedichtes la redenzione gesehen, welches zwar ganz catholisch, aber sehr poetisch ist. Es fängt beim gebet im garten an, und soll bey der himmelfahrt ⟨senden⟩. Soll 24 gesänge stark werden. –
Ein unbekannter hat Wielanden ein gedicht von 500 Hexametern geschikt, die gefallene Lilith. Der Inhalt ist eine versuchung der ersten Menschen in einer andern welt, wo allein die Frau unterliegt. W. hat das werk für sich selbst wunderartig gefunden, hernach hat Hr. Can. Br. lauter unpsychologisches Mischmasch darinnen gesehen, und W. hat es nach ihm auch gesehen. Ich sehe weder so viel wunderwürdiges noch so vil elendes darinnen.
Ein geschikter Steinschneider von Frauenfeld hat Hr. von Haller in Kupfer gegraben. Man hat mich um ein Emblema auf dem revers ersucht. Ich habe vorgeschlagen die natur vorzustellen, welche sich selber einen schleyer von dem haupt und den brüsten nimmt, und einen belorberten genium der vor ihr steht, er lachet, mit dem motto Naturam sine veste vidit.
Orell drukt eine sehr steife übersezung von Melmots letters. Sie ist von ihrem ehmaligen reisegefährten, dem Schuldheßgen.
Den heutigen morgen wird unser wakere liebe freund Goßweiler von Affoltern begraben.
Der Bediente, den Orell auf die Michelismesse gesandt hat, wird alle tage erwartet.
Behalten sie mir ihre liebe und empfehlen mich d. Frau Liebsten. Wieland empfiehlt sich ihnen.
Ihr ergebenster Dr.
B–r.
Zürich den 27 Octob. 1753.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.
A Monsieur Soulzer professeur à Berlin par amitié