Brief vom 15. September 1751, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 15. September 1751

Zürch den 15 Sept. 1751.

Mein wehrtester Freund.

Ich habe zwei schreiben von ihnen, vom – Mai und 30. Jun: in keinem melden sie den Empfang des pourtraits. Das pourtrait en ombre ist noch nicht fertig. Ich habe 2 Monate im Rheinthal zugebracht, die poetischen gegenden haben stark auf mich gewürket. Sie sollen spuren davon in Joseph und Zuleika auch einige im Crito zu sehn bekommen. Der Crito hat eigentlich die jungen herren zu Verfassern die mit mir um den Besiz des Messiasdichtersgeeifert⟩ haben. Es sind viel sachen darinn mit welchen ich nicht zufrieden seyn kann, die ich doch dulde. Der Joseph ist erst in primis staminibus. Aber Jacob und Rachel wird bald im druk erscheinen. Der Noah ist bey Hr. pastor Heß, der die Gütigk. hat ihn ins reine zu schreiben. Es ist ein andrer Noah als der, den ich Ihnen geschikt habe. Ich bitte darum nochmals den ersten Noah niemanden zu zeigen. Wie billig fürchte ich, daß sie meiner fruchtbarkeit halber für mich besorgt seyn werden, vornehmlich wenn sie in des Baron Bars gedanken stehen. Ich empfinde zu viel selbstvergnügen im schreiben; eine eigenschaft der elenden scribenten; aber ich weiß besser als dise, daß stets ein höherer grad der vollkommenheit ist; ich sehe disen Grad bisweilen von ferne; und ich könnte ihn einigemal erreichen, wenn ich mehr Geduld hätte. Ich habe zu vil von dem feuer, welches eilfertig machet.

Der Bauzner Naumann machet sich in dem Sylfen über mich sehr unnütze, welches ich mit freudiger gelassenheit vertrage. Man soll in Frankfurt auch eine Ode auf mich gedrukt haben. Das ist alles nichts gegen die Avanies, die Breitinger ausstehen muß. Füßli und Hans Heidegger rasen; insonderheit in Varrentraps Zeitungen. Hr. Theol. Zimmermann hat auch ein paar bogen von Büberey ausstehen müssen. Die Abwesenheit bald dises bald jenes Herrn von den Committirten ward ursache, daß die untersuchung trainirt hat. Die Hhn Censores stehen alle zu Breitinger, und ich sehe ein schweres ungewitter sich wider Füßlin zusammenziehen. Hans Heidegger hält alle sonntage auf dem hofe lectionen über die varrentrappischen Zeitungen. Hr. Examinator Heidegger hat einen glorieusen Sommer gehabt. Man schikte ihn in causā desperatā nach Bern, er sollte disen stand Tokenburgs halber auf Entschlüsse führen, von welchen Bern himmelweit entfernt war. Dennoch hat er ihn herumgebracht. Seine Neider loben ihn und bersten.

Klopstok könnte einen Nebenbuhler bekommen. Ein unbekannter hat mir den drittel eines epischen gedichts gesandt, welches zeiget, daß er die Geheimnisse der poesie kenne, und die sprache mit allen ihren schönheiten in seiner gewalt habe. Das Sujet ist der Arminius, der Deutschlands Freiheit gegen August behauptet hat. Der Autor ist vermuthlich ein Schwabe. Ich habe Klopstoken geantwortet. Ich habe durch die dritte hand vernommen, daß diser poet zu Copenhagen für einen phantasten passirt. Doch dises wort leidet einen sehr guten verstand.

Ich sehe daß Hagedorn und andre wakere männer den Hexameter nicht lieben, weil man die quantitet der sylben nicht nach den Regeln der Lateiner nimmt; vocalis ante duos consonantes producitur – – Schlegel hat in seinen Abhandlungen zu Batteux Einschränkungen seltsame sachen zum behuf der reime angebracht. Batteux und Schlegel haben nichts gesagt, was in Breitingers Dichtkunst nicht bestimmter und gründlicher gesagt sey, ohne daß Schlegel solches bemerket habe. Hr. Klopstok hat dem französischen prediger Le maitre bekannt, daß er weder mit dem plan noch mit der Ausführung der sündflut und des Jacobs zufrieden sey. Er mag wol ursache haben; aber die ist mir noch verborgen. Wie sehr bin ich Ihnen für Melmot verbunden. Meine Englische Bibliothek hat sich disen Sommer glüklich vermehrt, mit Melmot, Parnelle, Hume, Gilbert Wests Pindar, Kirkpatriks sea-piece, den Gedeon eines unbekannten. Diser gedeon ist vilmehr odenmässig als Episch. Auch für die berlinischen nachrichten bin ich verbunden. Aber ich finde die Recension von Parcifal nicht darinn; bitte mir dise mit dem andern, was sie nicht haben brauchen können zurükzusenden, damit ich ihr im Crito einen plaz geben lasse. Haben wir die theorie der angen: Empf: bald zu erwarten? Mich verlanget darnach, und nach ihren critischen moralischen und philosoph. briefen. Gellert hat viel naifeté; aber ich wollte gern etwas episches von ihm sehen. Hr. Füßli sagt, daß Gellert sehr mit sich selbst zufrieden sey, aber desto weniger mit den berlinern, die ihn nicht genug bewundert hätten. – Wenn ich den Joseph noch gearbeitet habe, der nur einen Gesang machet, werde ich nichts patriarchalisches mehr schreiben. Wiewol mir Heß schon die Heimkunft Jacobs aus Haran vorgeschlagen hat. Klopstok hat Hessen in dem brief an mich grüssen lassen.

Deutschland ist zu einer Zeit sehr dumm, und sehr wizig. Die schönen Dinge, die es hervorbringt, machen, daß wir die elenden gern übersehen. Aber wie dumm und wie wizig ist Voltär, der eine Voltär, auf einmal!

Sagen sie den leuten die sich über unausgearbeitete stellen aufhalten, daß es die Natur der Menschen so mitbringet, daß sie vielleicht nöthig sind, die übrigen stellen zu erheben, und daß die schöpfung selbst minder ausgearbeitete stüke habe, welche man thöricht tadelte. – Wenn sie recht Achtung geben, so werden sie sehen, daß ich den selenschlaf nicht annehme.

Hagedorn hat sich entschuldiget, da ich ihn aufgemuntert, etwas episches im Hexameter zu schreiben. Bar habe ihn ins Gelübde genommen, daß er nichts in disem Verse schreiben wollte. Ich hatte ihm das schicksal der Sunith aufgetragen.

Was halten Sie von den fünf letzten Zeilen des vierten gesangs der Messiade? Wie gefällt ihnen das Gleichniß von Philos aufspringen in demselben Gesang, bl. 113. Endlich was sagen sie zu den personis mutis, maria die Mutter des Heilands, die jüngere maria, Cidlis, Petrus, Johannes, Lazarus; welche etliche Seiten durch stille schweigen da indessen Cidlis und Lazarus leise denken was der poet laut erzählet; und was denkt der auferwekte Lazarus?

[→]– – Wie ist mein dauernder jammer
Ohne Maß? Ich verkenne die Herrlichkeit meines Lebens pp.

Vergeben sie mir, mein freund, die sottise die mir hier entschlüpfet, und die ich nur den Wänden sage: [→]marion pleure, marion crie, marion veut qu'on la marie.

Was für einen schönen Blik lassen sie mich in die Zukunft thun, in die Tage, da sie mit ihrer Liebsten in die Schweiz kommen wollen! Es werden gewiß die schönsten tage seyn, und ich will leben so lange ich kann, damit ich sie geniesse. Sie werden wohl mit söhnen und töchtern kommen, in welchen Sie dann doppelt leben werden!

Von mir hat niemand das blut aus meinen Lenden empfangen
Der jahrhunderte noch, nach meinem begræbnisse, lebte,
Und der nachwelt erzæhlte dass Er von mir hergestammet;
Niemand der sich zur tugend mit meinem namen entflammte,
Welcher um meinentwillen, um meiner arbeiten willen
Ehr empfieng und sich der Ehre nicht unwyrdig machte!
Der dann sagte: mein blut ist von dem mann hergeflossen
Welchen die muse den Noah und Jacob und Rachel gelehrt hat!

Ich erwarte Ramlers fryhling mit Verlangen. Ich werde dann erkennen wie sanft sich die deutsche sprache machen läst, ohne daß man ins affektirte falle. Man hat oft dem autor härtigkeiten zugeschrieben, welche der sprache waren. Klopstok selbst wird solcher beschuldigt, und ich sehe wol, die Klag würde noch ernstlicher seyn, wenn er ein Schweizer wäre. Jede provinz hat ihre eigenen härtigkeiten, die ihr die gewöhnheit angenehm gemacht hat; sie verzeiht sich dise, aber sie bemerket ängstlich die härtigkeiten der andern dialecte.

Auf den Winter werden zween Zürcher nach Berlin kommen, die manieren, und noch mehr Sitten haben; Heß ein junger Minister, Hn postdirector Hessen Sohn, der mir sehr lieb ist; Hirzel, ein politicus, Hn Rathshr. Hirzels sohn hintern Zäunen. Sie waren disen Sommer zu Paris, izt sind sie in Holland. Leben sie wol und bleiben ferner gewogen ihrem

Gehors. Diener und Fr.
Bodmer.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Eigenhändige Korrekturen

wollte gern etwas
wollte ihn gern etwas
sagt, daß Gellert sehr
sagt, daß erGellert⌉ sehr
elenden gern übersehen
elenden ⌈gern⌉ übersehen
maria, Cidlis, Petrus
maria, die Cidlis, Petrus
geniesse. Sie werden wohl mit söhnen
geniesse. Wenn Sie werden wohl mit ihren söhnen

Stellenkommentar

spuren davon
Vgl. die Landschaftsschilderungen in Joseph und Zulika und im Gedicht Der Land=Busem. In: Crito, St. 4, 1. Oktober 1751, S. 141–144. Siehe darin vor allem den Anfang: »Ebenes Thal mit Hügeln an deinen Seiten umgeben,/ Nur vor dem tagenden Licht in offner Aussicht verbreitet,/ Dich begrüßt mein Gesang, du bist des Liedes würdig,/ Mit dem baumreichen Schoß und Weinvollen Rücken geschmücket.«
in primis staminibus
Übers.: »in den ersten Grundfäden«.
Baron Bars gedanken
Vermutlich Anspielung auf [Georg Ludwig von Bar], Epitres diverses sur des sujets différens, 1740.
in dem Sylfen
Christian Nicolaus Naumanns Rezension im Critischen Sylphen, der in Frankfurt am Main erschien.
Avanies
Übers.: »Schmähungen«.
Varrentraps Zeitungen
Franz Varrentrapps Frankfurtische Berichte.
Ein unbekannter
Der erst 18-jährige Christoph Martin Wieland, damals noch Student in Tübingen, hatte Bodmer am 4. August 1751 sein Heldengedicht Hermann zugesandt (Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 1, S. 22). Wieland schrieb: »Sie erhalten diese Zeilen von einem Unbekanten. Ich kan Ihnen vorjezt nichts von mir entdekken, als daß ich schon geraume Zeit einer von Dero Verehrern bin.« Beide traten daraufhin in Briefwechsel miteinander und Wieland hielt sich schließlich ab 1752 längere Zeit in Bodmers Haus in Zürich auf. Vgl. Budde Wieland und Bodmer 1910. – Heinz Wieland-Handbuch 2008, S. 157 f.
Abhandlungen zu Batteux Einschränkungen
Johann Adolf Schlegels Übersetzung von Batteux' Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, 1751, waren eigne damit verwandte Abhandlungen beigefügt. Bodmer bezieht sich hier vermutlich auf den Abschnitt »Vom Reime«, S. 351 f.
dem französischen prediger
Klopstocks Brief an Johann Heinrich Meister nicht ermittelt.
Recension von Parcifal
Bodmers in Briefform verfasster Aufsatz über das mittelhochdeutsche Gedicht Parzival von Wolfram von Eschenbach wurde der Neuauflage seiner Gedichte 1754 beigefügt. Vgl. Zugabe von Briefen. An Aristus. In: J. J. Bodmer, Gedichte in gereimten Versen, 1754, S. 133–147. 1755 schrieb Bodmer zudem seinen Parcival in Wolframs von Eschilbachs Denkart.
theorie der angen: Empf:
Vgl. Brief letter-sb-1751-04.html.
brief an mich
Klopstocks Brief an Bodmer aus Friedensburg vom 22. Mai 1751 (Klopstock Briefe 1985, Bd. 2, S. 25).
fünf letzten Zeilen
F. G. Klopstock, Der Messias, 1751, S. 152.
Wie ist mein dauernder Jammer
Ebd. S. 136.
marion pleure
Französisches Volkslied. Übers.: »Marion weint, Marion schreit, Marion will verheiratet werden.«
Ramlers fryhling
Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1751-04.html.
Hn postdirector Hessen Sohn
Caspar Heß, Sohn des Postdirektors Hans Caspar Hess (1688–1761).
Rathshr. Hirzels sohn
Hans Heinrich Hirzel (1729–1790), der spätere Landschaftsmaler.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann