Brief vom 7. April 1751, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 7. April 1751

Mein wehrtester Herr professor und Liebster Freund.

Sie werden durch unsre Leipziger Meßleute und mittelst der vorsorge unsers Hn director Schuldheiß empfangen, mein portrait, so geschikt oder ungeschikt es der Mahler verfertiget hat. Es kann allezeit für ein signum arbitrarium dienen, das Sie Ihres freundes und dieners erinnert, es hat doch allezeit mehr ähnlichkeit mit mir, als die Worte mit den Gedanken. Ferner, die fortsezung von Jacob und Joseph; zugleich drey vollständige stüke, für Sie, für Hn Hofprediger Sak, für Hn Gleim, wenn sie dieses so billigen. Zu diesen sachen habe die palinodie geleget: bist du gekommen, den wir p. Sie ist der refrain von der Ode, die ich ihnen gelesen habe, Wie um die gräntzen des pols tief unter der Mitternachtflügeln, p. mit welcher ich Hn. Kl. in die schweiz eingeladen hatte. Noch habe ich etliche Blätter dazu geleget, die auszüge aus Kl. briefen enthalten, und sich auf den Charakter beziehen, die er mir von ihm geschildert hat. Diese beyden pieçes sind nur für ihre Augen, mein Freund, und sie werden wol thun, wenn sie solche unnüze machen, sobald sie gelesen sind. Und weil ich par hazard dazu gekommen, als Herr Orell einen Pak Bücher für sie gepakt, habe ich zwey stüke memoires du Conte Marsigli dazu geleget, damit ich bis auf ein mehrers die ausgaben damit erleichterte, die sie wegen des Noah gehabt haben. Sie können wenigstens ein paar gute freunde damit beschenken. Es sind doch gute und seltsame sachen in dem werk, wiewol es in obscuro geblieben ist.

Ich habe seit etlichen wochen sehr viel wolklang und poesie in den Noah gebracht. Er hat dadurch beynahe eine neue gestalt bekommen. Ich bitte sie darum, daß Sie ihre Abschrift niemanden mehr zeigen. Man dürfte sich vielleicht nur an Kleinigkeiten ärgern, und die wichtigern Dinge übersehen. Ich halte es auch schier vor unnöthig, daß Sie ihre Abschrift Hn Hofprediger Sak zeigen; ich bin der theologischen Wahrheiten, von welchen darinn gehandelt wird, vergewissert genug. Ich gehe in 3–4 Wochen ins Rheinthal und Appenzellerland, sonst wollte ich den Noah in den stand gestellt haben, daß er im Junius oder Julius in die Drukerey gekommen wäre. Hr. Doctor Hirzel hat zu Hn von Kleists Frühling seine übrigen Gedichte druken lassen. Es sind in diesen stüken schöne Bilder, dabey aber auch so vil und so beschaffene figuren, daß hiesige Critici bald den kühnen Ausspruch gethan hätten, wenn man Kleisten das metrum wegnähme, so würde er in dem grösten theil seiner Beschreibungen wol einen starken Redner, aber wenig mehr als einen mittelmässigen poeten vorstellen. Hr. Kleist hat ursache sich zu hüten, daß Gottscheds Weissagung nicht durch ihn erfüllet werde, die heutigen poeten wollen allgemach anfangen sich dem Lohensteinischen Geschmak wieder zu nähern.

Noch ein wort von Noah, legen sie alle furcht ab, daß Noah oder seine söhne zu pedanten werden, es sey denn daß man alles für pedantisch erklären wollte, was über die kindische morale des Jünglings hinausgeht. Ich muß doch den Jünglingen zu gefallen die patriarchen nicht in tändelnde jüngliche verwandeln. Dafür habe ich gesorgt, daß sie keine doctores oder disputanten è cathedra würden; daß sie keine wortreiche plauderer würden; daß sie nicht heutige, iztlebende, Menschen, nicht deutsche, vornehmlich in der sprache, würden.

Ich weiß izt nicht, ob ich mir mehr critische Erinnerungen wünschen soll. Man möchte mir Erinnerungen über stellen und sachen machen, in welchen ich stark genug bin mir selber zu rathen, und würklich schon gerathen habe. Dann möchte man meine verbesserungen dem guten Rath zuschreiben. Aber so viel ich sehe, bin ich vor guten Erinnerungen sicher genug. Werke von der Art des Noah, des Jacob p. sind zwar allezeit einer höhern Art von vollkommenheit fähig. Milton, Homer und Pope sind grösserer vollkommenheiten fähig, zum wenigsten die Sujets, die sie abgehandelt haben; und ich zweifle nicht, wenn der geringste aus der geister welt, der unterste in derselben, der auf der leiter der Wesen etwa mit Pope od. Homer gränzete, dieselben Sujets abhandeln sollte, daß er ihnen eine ganz andere art vollkommenheit geben würde. Und darum müssen wir mit einer kleinen relatifen vollkommenheit zufrieden seyn; zum wenigsten so lange, bis einer kömmt, der unser werk mit grösserer vollkommenheit ausführt. In solchem fall habe ich mich erforschet, und gefunden, daß ich nicht allein ohne Eifersucht, sondern mit einigem vergnügen einen bessern Noah, einen bessern Jacob, eine bessere syndflut empfangen könnte. Noch mehr, ich erkenne, daß dises sehr möglich ist, und eben kein Geist aus einer andern Welt dazu erfodert wird: ich selbst könnte solches vielleicht vollenden, wenn ich Musse, Geduld, und Aufwekung, auf einem gewissen Grad hätte.

Herr Burgermeister Escher, hat einen Tochtersohn, auch Escher, Hn stadtschreibers Sohn, der seit einem Jahr zu Göttingen gewesen, und izt nach Berlin gehen soll. Ihr Gnaden hat Hn Canonicus Breitinger und mich ersucht, daß wir ihn Ihnen empfehlen sollten. Er sagte, er hätte es selbst in ihrer hiesigen Anwesenheit gethan, wenn man schon damals die Gedanken gehabt hätte, den jungen menschen nach Berlin zu schiken.

Hr. Canonicus Breitinger wird Ihnen schreiben, auf was für speciale sachen eigentlich die Empfehlung gerichtet seyn soll. Ich glaube der junge Mensch werde ihnen nicht allzu große Mühe machen. Er hat gute gaben, aber er ist nicht der arbeitsamste. Er ist mein Auditor gewesen, und ich stehe bey ihm im guten Andenken.

Critiken über die Sündflut und Jacob werden mir sehr willkommen seyn, geschriebene oder gedrukte, und wenn sie auch nur von Mylius oder Bauzner sind. Ich kann sie mit männlichem Muth ertragen; und ich kann es mir selber bekennen wenn sie Grund haben, und auf Besserung denken. Ich bitte zuerst, daß man meine sachen strenge beurtheile, aber ich erwarte daß man mir denn auch das Gegenrecht vergönne; und daß ich dann eben so strenge über meine Brüder im Apollo urtheilen dürfe. Man muß mir dann erlauben, daß ich, wo nicht sagen, doch denken dürfe, in H. moralischen gedichten und fabeln, in H. satyren und andern gedichten, sey sehr wenig poesie: und wollte man einwenden, moralische Gedichte, satyren, fabeln, erfoderten nicht viel poesie, und litten sie selten, so wollte ich Popens Essai of man vorlegen, in welchem moralitet und poesie auf dem höchsten grade vereinigt sind.

Ich habe die Ehre mit vollkommener Ergebenheit zu verbleiben

Meines wehrtesten Hrn. und Freundes
gehorsamster Dr.
Bodmer.

Zürich den 7. April 1751

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »7 Aprill 1751«.

Eigenhändige Korrekturen

Jacob p. sind zwar
Jacob p. habensind⌉ zwar
geringste aus der
geringste vom aus der
Sujets abhandeln sollte, daß er ihnen
Sujets abhandeln sollten|sollte|, daß sieer⌉ ihnen
vollenden, wenn ich Musse
vollenden, wenn ⌈ich⌉ Musse

Stellenkommentar

signum arbitrarium
Übers.: »willkürliches Zeichen«.
palinodie
Nicht ermittelt.
Ode, die ich ihnen gelesen
Bodmers Einladungsode an Klopstock Verlangen nach dem Poeten wurde erst Jahrzehnte später publiziert in: J. J. Bodmer, Apollinarien, 1783, S. 82–91.
memoires du Conte Marsigli
Die 1741 in Zürich gedruckten Memoires sur la vie de Mr. le Comte de Marsigli von Louis Dominique Quincy. Luigi Ferdinando Marsigli war italienischer Naturforscher und Gelehrter, der u. a. mit seinem zeitweiligen Sekretär Johann Jakob Scheuchzer die Schweiz bereiste.
in obscuro
Übers.: »im Verborgenen«.
Gottscheds Weissagung
In Gottscheds Vorrede zu den von ihm gesammelten, zusammengestellten und 1744 veröffentlichten Auserlesenen Gedichten Benjamin Neukirchs existieren zahlreiche Anspielungen auf den »lohensteinschen Geschmack« und dessen schlechten Einfluss auf die deutschen Dichter.
Escher, Hn stadtschreibers Sohn
Vermutlich Hans Kaspar Escher (1731–1781), Sohn des Stadtschreibers Johannes Escher (1705–1765) (vgl. H. J. Leu, Lexicon, 1786, Suppl.-Bd. 2, S. 186). Escher studierte vom Herbst 1748 bis zum Frühjahr 1751 in Göttingen.
Bauzner
Zu Christian Nicolaus Naumann und seinen Rezensionen vgl. den Kommentar zu Brief letter-bs-1749-09-14.html.
H.
Friedrich von Hagedorn, dessen Moralische Gedichte 1750 erschienen waren.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann