Brief vom 8. Oktober 1751, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 8. Oktober 1751

Mein wehrtester Herr und Freund.

Da Hr. Ott mir eine gelegenheit zeiget, etwas nach Berlin zu schiken, so fallen mir die drey ersten stüke von Crito in die Hand. Von dieser schrift habe ich ihnen vor 14 Tagen durch die post nachricht gegeben. Sie werden wol sehen warum mir vieles darinn theils an sich selbst theils wegen der art, womit es vorgetragen wird, nicht gefallen könne. Doch ist auch nicht wenig Zeug darinn, das artig und verständig genug ist. Hr. Schuldheß hat die Recensionen von der Messiade, Hr. Schinz, der Geistliche, die von der sündflut verfasset. Ich kann mit ziemlicher sicherheit vorhersehen, daß die folgenden stüke noch besser seyn werden. Schade daß die orthographie so schlecht ist, und so viel ungeschikte drukfehler einschleichen.

Man hat sich zu Frankfurt über diese Critone schon unnütze gemacht; man ist vornehmlich auf Schuldheß böse. Warum solle man nicht grob gegen diese ⟨heiligen⟩ Herren seyn, da man mit ihren Helden so übel zufrieden ist? Sie haben ohne Zweifel den ersten Gesang des Wurmsamens, eines Heldengedichts, gesehen. Es ist so niederträchtig daß ich fürchtete Naumann selber unrecht zu thun, wenn ich es ihm zuschriebe.

Klopstok wird darinn für den Seraffen aller Seraffen gelobet, und dieses ist einer von den critischen Einfällen des verfassers. Das schlimmste ist nicht das tumme Zeug selbst, noch schlimmer würde seyn, wenn dergl. Arbeiten Beifall bey den guten deutschen fänden. Die gröste Klage ist, daß in der Messiade unverständliche Poesie sey; dann exemplirt man mit stellen, welche Kinder verstehen können. Die Michelismesse wird uns ohne zweifel urtheile genug über den Messias, den Noah und die sündflut und Jacobkramen⟩. Warum haben Sie mir nichts durch Hn Füßlin, nichts durch Hn Escher, geschikt? Nichts von unserm Krausen; nichts von Mylius? Sie hätten mir die Artikel von Parcifal p., die sie nicht in die berlinischen Nachrichten eingetragen haben, zurük senden können. Durch eine solche gelegenheit könnten sie mir die Abschrift des ersten Noah wieder schiken; wenn sie aber begierig sind, solche künftig mit dem zweiten Noah zu vergleichen, so bin ich es zufrieden, daß sie selbige behalten, mit der bedingung, daß sie dieselbe niemanden zeigen und nach diesem entwed. unnüze machen, oder zurüksenden. Ich wollte nicht gern, daß ein Curieux impertinent variantes auszöge. Der neue Noah ist in der grossen Censur. Ich kann ihn nicht wol Weidmann zu druken geben, ich muß beym druk gegenwärtig seyn; und hiesige Verleger ligen mir an. Rachel und Jacob warten noch auf die gelegenheit der Orellischen Presse. Ich habe die stelle von dem Gleichnisse mit dem Amselneste Hn Heß von Altstädten aufgeopfert, er meint sie sey theils zu niedrig, theils zu schlipfrig; weil sie an das Zeisignest erinnert. Ich bin zwar davon nicht überzeugt. Wenn man aus furcht jemand zu ärgern, dessen Gemüth und Einbildungskraft im argen ligen, dergl. stellen ausmerzen muß, so könnte man aus derselben ursache fodern daß man gantze Gedichte verwürfe. Es sind grosse Leute, und selbst vom geistlichen stande, ich verstehe durch große leute nur erwachsene, welche sich an dem Sujet von Jac. und Rachel, vom Messias, selber, ärgern. Unser pfarrer Ulrich, der ein grosser KürchenEngel ist, hat ein vorgebliches Mißfallen an der poetischen Abhandlung aller Biblischen Geschichten. Hr Canon. Hagenbuch steht in denselben gedanken, doch ärgert diser sich mehr an dem Hexameter, der disen Nahmen annehmen darf und doch die prosodie der lateiner de quantitate so elend verabsäumt. Es ist seltsam daß die Reges latini den Hexameter nach dem deutschen Sylbenmasse nicht leiden können. Hr. Haller schreibt von Göttingen, daß die deutsche Gesellschaft daselbst zertheilt sey; Einige stehen für den deutschen Hexameter, andere halten es mit den gereimten Jamben. An dem Haupt der letztern stehe Hr profess. Geßner. Seltsamer ist, daß diejenigen, welche den Hexameter verurtheilen zugleich die Aufführung der patriarchen und apostel verurtheilen, welche im Hexameter geschieht. Mein Unbekannter, der mir die vier ersten Gesänge vom Hermann geschikt, hat sich noch nicht geoffenbaret. Gottsched macht viel Versprechens von einem Heldengedicht des von Scheibe der die Theresiade geschrieben hat, und izt an einem Werk arbeitet, von welchem Gottsched rühmet:

Cedite germani scriptores, cedite Galli,
Nescio quid majus nascitur Henriade.

Ich kann ihnen nicht genug sagen wie viel Hochachtung ich für Melmouth habe; er macht mir ungemein viel vergnügen. Durch dergleichen schriften muß ich mich gegen alle die närrischen urtheile fest machen, welche auf den Noah, den Jacob, die Rachel, die sündflut warten. Ich erschreke bald, daß ich schon so manches gedicht geschrieben habe. Die Menge schon allein scheint ein starkes vorurtheil zu erweken; wer kann so viel, und das alles gut schreiben. Dann kömmt mein Alter von 50 Jahren dazu, das für sich allein ein Beweiß ist, die gedichte seyn ⟨frostig⟩. Man wird die Gütigkeit für mich nicht haben, die man für Homer gehabt hat, und nur für Homer haben darf, daß edle nachlässigkeiten in disen Gedichten seyn. Bey diesen umständen stehe ich recht in der Enge, daß ich Joseph und Zuleika nicht schreiben darf, wenn ich nicht überweidig heissen will. Noch fühle ich einen Trieb, dises Werk vorzunehmen, welchem ich kaum widerstehen kann. Man trägt sich hier mit einer parodie der sündflut, die ein guter Kopf von hier soll verfasset haben; ich habe sie noch nicht gesehen.

Haben sie die stumme scene der Maria, des Lazarus, des apostel Petrus p. im vierten Gesang der Messiade betrachtet, und was sagen sie zu den stummen soliloquiis der Cidli und des Lazarus; Wie gefällt ihnen des Lazarus sehnliches Klagen? [→]Ich verkenne die Herrlichkeit meines Lebens! vergebens vernahm ich den Fußtritt der Allmacht. Was fehlet ihm! und kömmt ihnen hier nicht in den sinn; Marion pleure, marion crie p. Dise Critik sage ich keinem Deutschen. Ich fürchte die Eifersucht, und bin darum recht froh, daß der Verfasser des Hermanns ein schwabe ist, der dem Neid gegen die schweizer eine diversion machen wird.

Die Committirten Herren haben erst vor 3. Tagen den pfarrer von Feldheim verhöret. Er hat sich zum Sanonomotusky bekannt, aber alle die andern schriften desavoüirt. In seiner schrift will er nichts ehrenrühriges sehen. Er habe zwar die defension Calvini gegen Breitinger etwas scharf geführt, indessen habe er bey allen reformirten gottesgelahrten deutschlands beifall. Er habe es nicht über sein Gewissen bringen können zu schweigen da Breitinger die Epistolae de clausula Or. Dom. gedrukt. Alle gelehrten wissen daß Breitinger in dem dissertation de consensu multitudinis Baile ausgeschrieben habe. Was Baile mit disem Satz für Absicht gehabt, sey bekannt. Breitinger habe lebenslang jedermann zum besten gehabt, und ihn selbst in 8. schritten angefochten.

Dises geschäft ruhet izt wider biß nach dem Herbst. Füßli hat grosse patronen, oder vielmehr Breitinger hat grosse Feinde. Die Censores mit welchen Füßli so übel umgesprungen ist, als mit jenem, sind izo zwar noch geduldig, aber in ihren herzen siedet es stark. Inzwischen wird Breitinger in Varrentraps Zeitungen beständig mit genommen, in einer der lezten ist ein brief aus Zürich datiert, in welchem Breitinger für einen asinius pollio, einen militem gloriosum p. ausgerufen wird, der seinen mann nicht bestehen dürfe, wenn sein Gegner auch schreiben darf; der par lacheté den Richter zu hülfe nimmt. –

Man sagt, Quirini habe den Versuch einer Friedensstiftung zwischen Formei und ihm ins Italienische übersezt und druken lassen. Sie werden dise schrift kennen in welcher Hr Theologus Zimmermann so übel mitgenommen ist.

Alle diese anfälle hindern nicht, daß nicht Br. und Zimm. ruhig schlafen. Hr Br. bekommt zwar vil mühe mit den Lumpensachen, doch ist er dabey aufgewekt und unerschroken. Es ist nur schade für die Zeit, die er mit den sottisen verderben muß.

Alle unsere Freunde von hier und Winterthur sind gesund und freudig. Hr Examinator Heidegger hat der Neid selbst schamroth gemacht. Wir haben dem grossen König ein Regiment gegeben, und kein Zweifel, wir werden, vielleicht noch disen Winter, ein Bündniß mit ihm machen.

Sehen sie doch die Menge meiner poetischen Geburten nur für die Frucht der stunden an, in welchen unsere besten köpfe die reden halten, die das ⟨Piket⟩ oder Chambre ihnen dictirt. Adieu, mon cher amy. Ich bleibe mit herzlichem Ernst

Ihr ergebenster Freund
B–r

Zürch den 8. October 1751.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Drei erste Stücke der Monatsschrift Crito.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »den 8 Oct 51.«

Eigenhändige Korrekturen

von der sündflut
von Noah der sündflut
Weidmann zu druken
Weidmann zurüke zu druken
nicht in den sinn
nicht in dieden⌉ sinn
wenn sein Gegner auch
wenn nicht alle sein Gegner auch

Stellenkommentar

Crito
Crito. Eine Monats-Schrift, von Bodmer initiiertes Rezensionsorgan zu »Beförderungen des guten Geschmacks« (Vorbericht), in dem »grösstenteils deutsche, zuweilen auch englische und französische Bücher« besprochen werden sollten. Vom Crito erschienen insgesamt nur sechs Stücke in Zürich im Verlag der Gebrüder Gessner.
Hr. Schuldheß hat
Johann Georg Schulthess' Rezension der Ausgabe des Messias von 1751. In: Crito, St. 1, 1. Juli 1751, S. 17–23.
Hr. Schinz
Es handelt sich hierbei um den Theologen und späteren Pfarrer von Altstetten Johann Heinrich Schinz, der mit Wieland und Bodmer befreundet war. Sein nur ein Jahr jüngerer Namensvetter war Kaufmann und als Übersetzer englischer Literatur tätig. Die Rezension von Bodmers Syndflut erschien im Crito, St. 1, 1. Juli 1751, S. 3–16.
Wurmsamens
[D. W. Triller], Der Wurmsaamen. Ein Helden-Gedicht, 1751.
für den Seraffen aller Seraffen gelobet
Ebd. S. 4.
Curieux impertinent variantes
Übers.: »[dass ein] unverschämter Neugieriger [vom Noah] Lesarten [auszöge]«.
in der grossen Censur
Vgl. zum scharfen Zensurwesen in Zürich, gegen das Bodmer zeitlebens eintrat: Bürger Aufklärung in Zürich 2011, S. 167–174.
Zeisignest
Vermutlich Anspielung auf Johann Christoph Rosts Das Zeisig-Nest, publiziert in dessen Schäfererzählungen, 1742.
Haller schreibt von Göttingen
Vgl. Hallers Brief an Johannes Gessner, 4. Juni 1752 (wohl in der Abschrift Johannes Gessners an Bodmer): »Gesnerus noster antihexametros est, Michaelis tolerat si sonori fuerint. Ego soleo ad hæc exteriora minus adspicere, dum ingenium mihi placeat.« (Haller Gedichte 1882, S. 360).
Hr profess. Geßner
Der renommierte Göttinger Philologe Johann Matthias Gesner, seit 1734 Professor der Poesie und Beredsamkeit. Gesner war dort der wirksamste Vertreter der klassischen Philologie und 1738 Gründer der Deutschen Gesellschaft zu Göttingen.
Heldengedicht des von Scheibe
Franz Christoph von Scheyb veröffentlichte 1747 Theresiade, ein Ehrengedicht. Bodmer bezieht sich hier vermutlich auf Gottscheds Anschreiben an den Herrn von Scheyb, publiziert in: J. C. Gottsched, Gedichte, 1751, 2. Teil, S. 551–558.
Cedite germani
Adaption eines Verspaares aus einer Elegie des Properz, das ursprünglich lautet: »cedite Romani scriptores, cedite Grai!/ nescio quid maius nascitur Iliade.« (Prop. Elegiae II, 34, 65 f.). Übers.: »Weichet zurück, ihr römischen Dichter, weichet, ihr Griechen: etwas Größres entsteht hier, als die Ilias ist.« (Properz, Elegien, 1960/2014, S. 34, Vers 65 f.).
überweidig
Gesetzwidrig.
parodie der sündflut
Gemeint ist Salomon Geßners Die Nacht. Zu Geßners Parodie und zu Bodmers Reaktion darauf vgl. Perels Von Young zu Novalis 2006, S. 67 f.
Ich verkenne die Herrlichkeit
F. G. Klopstock, Messias, 1751, 4. Ges., Vers 877 und 879 (S. 136).
den pfarrer von Feldheim verhöret
Johann Konrad Füssli (auch Füßlin) war in dieser Zeit in eine theologische Fehde mit Johann Jakob Breitinger verwickelt. 1751 veröffentlichte er unter den Pseudonymen Sanonomotuski, Alitheadotoski und Antisatanatuski Broschüren und Streitschriften, gegen die maßregelnd vorgegangen wurde. Gegen Breitinger war Sanonomotuskis von Sanonomotuskium freudiger Zuruf an das Schweitzerland, Von wegen der glücklichen Erfindungen, Welche der Hochgelahrte und Hochverdiente Herr Johann Jacob Breitinger, öffentlicher Lehrer der griechischen Sprache, [...] Neulich ruhmwürdigst an den Tag gegeben hat gerichtet.
defension Calvini
[J. K. Füssli], Vier Sendschreiben an Canzler von Mosheim, 1751. Vgl. dazu: Lavater-Briner Johann Konrad Füssli 2015, S. 149.
Versuch einer Friedensstiftung zwischen Formei und ihm
[J. K. Füssli], Versuch einer unpartheyischen Friedensstiftung zwischen Sr. Eminentz dem Herrn Cardinal Quirini und dem Herrn Prof. Formey von Berlin, 1751. Vgl. dazu Lavater-Briner Johann Konrad Füssli 2015, S. 148. Eine italienische Übersetzung konnte nicht ermittelt werden.
grossen König ein Regiment
Ludwig XV. Zum in der Schweiz durchaus umstrittenen Bündnis mit Frankreich vgl. Höchner Selbstzeugnisse von Schweizer Söldneroffizieren 2015, S. 219–223.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann