Brief vom 12. August 1747, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 12. August 1747

Wehrtgeschäzter Herr und Freund.

Ich hoffe daß die bekanntschaft, die sie in Leipzig mit den Hhn Ebert, Rabener und Giseke gemacht haben, viel gutes mit sich führen werde. Es ist schade, daß sie den Hn Gärtner nicht mehr angetroffen haben; ich befinde, daß er jene an Naturell, und delicatem Urtheile weit übertrifft. Sie sollten aber in Leipzig auch den poeten des Messias gesehen haben. Von disem hat mir Hr. Gärtner das II. Buch eines langen Gedichtes auf den Messias gesandt, von welchem ich behaupten darf, daß es Miltonisch sey. Miltons Geist ruhet auf dem Verfasser. Es ist ein Charakter darinnen, der Satans übersteigt, und ein andrer, der uns mitten in der hölle mitleiden verursacht. Haben Sie nicht auch den profess. Kästner gesehen? Man schreibt mir daß der Autorneid das vornehmste Ingrediens in seinem Charakter sey. Man vergleicht ihn hierüber mit Mylius, der ein satyricus ist, wie Uhlich ein schäferdichter, ein Criticus und ein Poet wie Gottsched. Doch ist Mylius izt Gottscheds Todfeind, und noch dazu ein Freygeist.

Ist es möglich, daß Sie den Theocritus durch einen Schweizer übersezt haben wollten? Warum muntern sie zu diser Arbeit nicht einen von denen an, welche so geschikt an den Brämischen Beyträgen arbeiten? Kein Schweizer ist dazu geschikt, weil es uns an Wörtern fehlt, die in der Schäfersprache, und von den schäfergeschäften ohne Niedrigkeit können gebraucht werden.

Ich soll Ihnen mein urtheil von ihren platonischen und Shaftsbürischen Unterredungen sagen. Mit den Sachen bin ich vollkommen zufrieden; auch überhaupt mit der ausführung, doch weil die ausführung nach ihrem vornehmen eben den Sachen einen Relief geben soll, so will ich Ihnen zur Überlegung frei geben, I. Ob es nicht natürlicher wäre, daß die gespräche einer andern person erzählt würden, als eben derjenigen, welche sie mit dem Erzählenden zuerst geführt hatte. In einem Theatralischen stüke wird nicht gelitten daß dem Cäsar Antonius zu erzählen komme, was der Cäsar ihm tages zuvor gesagt hat. Sie thun dises in dem Täglichen Umgange nicht.

II. Ob sie nicht einen Sprung zu ihrer Bekehrung thun; entweder sollten sie sich nach einem längern Widerstand erst ergeben, oder sie sollten deutlicher zu erkennen geben, daß es Ihnen zur Bekehrung nur an sehr wenigem fehlte.

III. Ob nicht in ihren Beschreibungen hier und dar eine delicatere wahl der umständgen getroffen werden könnte; ob sie in den kleinen gemähldgen nicht mehr Neuigkeit beobachten könnten. Irre ich nicht so habe ich in Englischen und Italienischen poeten dinge beschrieben gelesen, welche sie beschreiben, die aber daselbst mit feinern Zügen, und lebhafter beschrieben waren. Ein Engelländer, Nahmens Akinside hat ein Gedicht of the pleasurs of imagination geschrieben, welches nach Shaftburys Ideen verfertigt ist, und Ihnen mit schildernden Beschreibungen gute dienste thun könnte. Es schadet nichts wenn ihr stilus wie Platons, wie Shaftsburys, noch poetischer ist.

Ich will nicht anmerken, daß Ihr deutsch noch einige kleine verbesserungen nöthig hat, das sagen uns unsre sächsische freunde und feinde gern genug. Ich rede aber nur von der grammatischen Reinigkeit. Ich habe sonst oft bemerket, daß die Klagen, welche die Sachsen über die dunkle und ungeschikte sprache der Schweizer führen, manchmal die Ideen und deren stellung oder Verbindung treffen; welche nicht von dem Ressort der Grammatik sind.

Von dem französischen langen briefe muß ich Ihnen sagen, daß er nicht französisch sey. Ich verwundere mich zwar, daß sie es in diser sprache so weit gebracht haben; aber sie ist so voller consacrirten wörter und Redensarten, welche keine analogischen Grund haben, und sich bloß auf das on le dit, on ne le dit pas gründen, daß man etliche Jahre in Frankreich gewesen seyn muß, wenn man alle dise delicatesses bemerken will. Gesezt sie wollten Ihre arbeit einem Franzosen zur Übersehung zeigen, so zweifle ich sehr, daß sie einen finden können, welcher in ihre Ideen und den Tour, den sie selbigen geben wollen, eintreten würde. Es gäbe gewiß eine bigarrure. Schreiben sie lieber deutsch; die sachen, von welchen sie reden, sind doch im deutschen noch immer unbekannter als im französischen. Wir haben noch weder Reaumures, noch La Pluches. Alles wird auf deutsch neuer scheinen.

Ich bitte auch nachzusinnen, ob es natürlich herauskomme, daß der brief so lange gemacht wird; an ein Frauenzimmer einen so langen brief schreiben, der ein kleiner tractat ist! Entweder geben sie dem ding die form eines Tractates, oder wenn es ein brief seyn soll, so theilen sie disen langen in 4 od. 5 kleine.

Es ist mir sonst an einem oder zwey orten vorgekommen, die Douceurs so sie dem Frauenzimmer sagen, seyn ein wenig zu gezwungen. Sie sagen pag. 16. [→]Je suis presque tenté de laisser mon sujet – Steht dises an einem orte bequem, wo sie allererst wider die Häftigkeit der Affekte geredet hatten?

Meine Anmerkungen sind keine grausamen dinge, daß ich stark besorgt seyn sollte, Sie damit zu erzörnen. Und Sie gehören nicht zu dem generi irratabili vatum; wenn sie keinen Grund haben, so werden sie lieber darüber lachen.

Ich bin mit Hn Gleim in allen Stüken zufrieden, und werde ungeduldig daß er so lange nicht befödert wird.

Wir sind gesonnen das parisische Volumen Minnesinger zu publiciren. Es wird ein ziemlicher in folio werden. Es soll uns nicht grauen, wenn Breitkopf es verlegen will; doch muß es zu Zürich gedrukt werden.

Sie werden auf dise Messe den [→]Mißhandelten Opiz in der Trillerschen Außfertigung bekommen. Ich habe keinen theil daran, ausgenommen in dem neunten Abschnitt. Ich bitte dieses unsren Freunden zu sagen. Ich mögte nicht gern den Nahmen haben, daß ich mir mit dem ehrlichen Stümper so viel Arbeit gemacht hätte.

Ich habe die Ehre beständig zu verbleiben

Meines werthgeschäzten Hn und Fr.
Ergebenster
Johann Jacob Bodmer

Zürch den 12 Augstm. 1747

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Datierung

Der Brief war ursprünglich auf den 22. September datiert und wurde von Bodmer in »12 Augstm.« (12. August) korrigiert.

Eigenhändige Korrekturen

sie mit dem Erzählenden zuerst
sie ⌈mit⌉ dem Erzählenden zuerst
was der Cäsar
was ⌈der⌉ Cäsar
wenn es ein brief seyn
wenn in briefenes⌉ |ein brief| seyn
12 Augstm. 1747
22 |12| SeptembAugstm. 1747

Stellenkommentar

hat mir Hr. Gärtner
Schreiben Karl Christian Gärtners an Bodmer, Leipzig, 8. April 1747 (ZB, Ms Bodmer 2.1), das Bodmer im Mai 1747 erhielt (vgl. Bodmers Bemerkung auf dem Brief: »empfangen im May 1747«). Gärtner informierte Bodmer darüber, dass »das erste Stück des IV. Bandes« der Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes »itzo unter der Presse« und darin anonym die ersten drei Gesänge von Klopstocks Messias abgedruckt seien: »In eben diesen Band werden wir das erste Buch von einem großen Epischen Gedichte setzen, in welchem sich der Verfaßer das Werk der Erlösung zu besingen, vorgenommen hat. Er hat sich einen Grundplan davon gemacht, welcher ohngefähr zwölf Bücher, oder einige mehr betragen könnte, bey den Versen aber hat er sich das griechische Sylbenmaaß des Homers gewählt, welches seiner Meinung nach, mehr Abwechslung und Anmuth hat als die deutschen Jamben. Ich nehme mir die Freyheit [...] ein Stück aus dem zweiten Buche mitzuschicken, woraus Sie selbst seine Schreibart und seine Fähigkeit beurtheilen können. Wollen Sie mich über dieses Stück Ihrer Aufrichtigkeit würdigen, so werde ich es so wohl als der Verfaßer für eine besondre Probe Ihrer Freundschaft halten, wie wir denn blos in der Absicht, das Urtheil der Kenner zu erfahren, das erste Buch dieses Gedichts in die Neuen Beiträge einrüken laßen.«
Man schreibt mir
Quelle nicht ermittelt. Eventuell bezieht sich Bodmer mit seinen Informationen über Kästner hier noch einmal auf den Brief von Lange vom 14. April 1746 (vgl. Kommentar zum Brief letter-bs-1746-12-06.html). Die Passage zu Mylius findet sich fast wortgleich in einem Schreiben an Lange vom 12. September 1747 (Lange (Hrsg.) Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe , Bd. 1, S. 163).
Uhlich ein schäferdichter
Der Schauspieler und Bühnendichter Adam Gottfried Uhlich, der sowohl für die Neuberische als auch für die Schönemann'sche Schauspieltruppe arbeitete, hatte 1742 das Schäferspiel Das Fest veröffentlicht.
Akinside
Der englische Arzt und Dichter Mark Akenside publizierte 1744 The Pleasures of Imagination. Mit Akenside war Bodmer über Hagedorn bekannt geworden, der in einem Brief vom 26. Dezember 1744 über diesen und dessen Schriften berichtete (Hagedorn Briefe 1997, Bd. 1, S. 140). Zu Akenside vgl. Dix Literary Career of Mark Akenside 2006.
französischen langen briefe
Nicht ermittelt. Der vermutlich für das Journal Der Mädchenfreund konzipierte, von Formey ins Französische übersetzte (vgl. Brief letter-sb-1747-10-01.html) und an eine weibliche Empfängerin adressierte Brief befand sich wahrscheinlich unter den »Philosophischen Unterredungen«, die Sulzer an Waser übersandt hatte, mit der Bitte sie Bodmer zur Beurteilung zu übergeben. Vgl. Brief letter-sb-1747-05-18.html.
on le dit, on ne le dit pas
Übers.: »Man sagt es, man sagt es nicht.«
weder Reaumures, noch La Pluches
Die französischen Naturforscher René Antoine Ferchault de Réaumur und Noël-Antoine Pluche. Pluche war u. a. für seine Schrift Spectacle de la nature bekannt. Réaumur erlangte durch seine 1734–1742 veröffentlichte Sammlung von Insektenstudien und die von ihm geschaffene Temperaturskala für Thermometer Berühmtheit.
Je suis presque
Übers.: »Ich bin fast in der Versuchung, meinen Gegenstand aufzugeben.«
generi irratabili vatum
Genus irritabile vatum. Hor. epist. II, 102. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1747-03-15.html.
Mißhandelten Opiz
Die unter Mitarbeit Bodmers von Breitinger verfasste und 1747 veröffentlichte Schrift Der Gemißhandelte Opiz in der Trillerischen Ausfertigung seiner Gedichte richtete sich gegen Daniel Trillers vierbändige Ausgabe von Martin Opizen von Boberfeld Teutsche Gedichte, die ein Jahr zuvor 1746 bei Varrentrapp erschienen war.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann