Brief vom 19. März 1746, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 19. März 1746

Werthester Herr und Freund.

Erlauben sie mir dise Titulatur; und haben sie die gütigkeit, künftig keine andere mit mir zu gebrauchen. Ich darf sie mir desto ehender anmaßen weil unser Hr. Waser mir an den Vergnügungen die ihm Ihre freundschaft verursacht, öfters Antheil giebt. Ich rede hier vornehmlich von Ihrer Abentheuerlichen Reise nach Laublingen, welche Hr. Waser mir vorgelesen hat. Er wird Ihnen sagen, wie sie mich so vielfältig gerührt, und wie viel natürliche Ausrufe sie bey mir verursacht habe. Sie stellen die Sache so lebhaftig vor, daß ich mir mehrmahlen einbildete, ich wäre bey Ihnen gegenwärtig, ich fiele mit ihnen aus der Kutsche, ich ässe die Torte mit ihnen, ich würde mit Ihnen in arrest genommen, ich schwatzete selbst mit unserm Langen. Sie müßen noch mehr reisen, mein Freund, und allemal ihre Reisen mit so natürlichen, so philosophischen so moralischen Einschiebseln begleiten. Die Abentheuern und die Betrachtungen darüber wachsen unter Ihren Füßen.

Ich bitte aber, wenn sie nächst wider reisen, daß sie so gütig seyn, und sich unter andern Abentheuern auch einen elenden scribenten, es sey in Prosa oder in Versen, begegnen laßen. Ich habe noch keinen dergleichen in der natur mit haut und haar, mit fleisch und bein, mit Stok und Dose, welche vielleicht sein vornehmster Theil sind, gesehen.

Weil Hr. Lange so große lust an allem hat, was schweizerisch ist, so wird Hr. Waser Ihm unsere Appezellerreise beschreiben. A propos, Ich glaube, daß der Hr. pastor sich die Schweizer alle so vorstelle, wie er Sulzer siehet. Er hat keinen andern Maßstab: Mit so ungemeiner Hochachtung redet er von den Schweizern.

Wir haben einen Anschlag, Hn Waser einmal en ambassade nach Magdeburg und Laublingen abzufertigen. Diese beyden Orte stehn bey uns in einer gleichen linie, weil das eine Sulzer, das andere Langen in sich hat. Zur Ausführung des Vorhabens fehlt uns nichts weiter als etwa 100 thlr. Solche aufzubringen wollen wir uns taxieren, das wird uns nicht so ⟨sauer⟩ ankommen, als die Leipziger. Oder wir wollen jeder einen Monath lang arbeiten, was wir am besten können, mit der hand oder mit dem kopf. Die Gottscheden unter uns mit der hand, und die Antigottscheden mit dem kopf; und allen gewinn, allen verdienst wollen wir zu der feyerlichen gesandschaft verbrauchen. Daß Hr. Waser sich als ein andrer Bänkelsinger durch die deutschen provinzen durchsinge, dazu schikt sich kein Satyr.

Izt fällt mir ein, daß ich in der Laublingerreise, oder in der Leipzigerreise die beschreibung eines Stuzers en detresse desideriert habe, ich meine eines Stuzers, wie der damals aussahe, als er von den Dessauern aller baarschaft, alles geschmeides p. entlediget war.

Ich schreibe Hn Langen einen weitläuftigen Brief, wovon ich lieber Ihn den Inhalt Ihnen erzehlen lassen als hier noch einmal schreiben will. Was ich Ihnen und ihm vor Sachen hierbey übersende, davon will ich eine Note auf diesen Brief kleben.

Sie haben mich begierig gemacht, Seine Ode auf die Widerkunft des Königes zu sehen, und dises eben dadurch, daß sie dieselbe verworffen haben. Er hat eine kleine ode auf Hn Orell geschrieben in der Melodie Mecenas atavis p. Es ist schier zu vil für einen buchhändler, doch weil Hr. Orell generositet hat, so hoffe ich daß es auf ihn würken werde. Ich mahne den Hn Lange ab, daß er sich mit Hn Meyern doch in keine metaphysischen Controversen einlaßen wolle. Es wäre Sünde, daß die Metaphysik ihn der Poetik raubte.

Ich habe ein paar briefe beygeschloßen, sie mögen selbst sehen, ob sie sich zu ihrem vorhaben briefe herauszugeben schiken. Ich weiß noch nicht, was vor Gränzen sie diesem Vornehmen gesezet haben. Ich gebe ihnen volle macht sie anzunehmen oder zu verwerffen, zu ändern, wie es ihre absonderlichen Umstände erfodern mögten. Und wenn sie gar nichts damit zu thun wissen, bitte sie mir mit gelegenheit wider zurükzusenden.

Sie werden von Hn Waser die Geschichte des Zusatzes zu dem XLI. Stük hiesiger gelehrten Nachrichten vernommen haben, wovon ich hierbey einige Stüke beigeleget habe.

Ich weis nicht – ob ich Ihnen ein completes Exemplar der freymüthigen Nachrichten schiken kan: Sonst haben sie schon alle die Stüke empfangen, in welchen etwas critisches aus den Federn unsrer Freunde enthalten ist. Die Ode auf die Unsterblichkeit hat einen jungen Berner nahmens Tscharner zum Verfasser.

Adieu. Wir erwarten alle Posttage die angenehme Nachricht von Ihrer Beförderung. Ich verbleibe mit aller Hochachtung

Ihr ergebenster
Joh. Jacob Bodmer

Zürich den 19 Merz 1746.

Bey gelegenheit der leipziger Messe werde Ihnen 1. Sittenmaler 1. Panthea und 1. Satyre über die bäurischen schäferspiele übersenden. Gegenwärtiges nimmt Hr. Kitt mit sich. Ich gebe ihm auch einen langen Brief für Hn Lange.

[→]Ist nicht nöthig, weil sie Hr. Kitt wol besorget.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

»ein paar Briefe« für Sulzers Projekt einer Sammlung Freundschaftlicher Briefe, die er mit Gleim und Lange herausgeben wollte. – Stücke der Freymüthigen Nachrichten.

Eigenhändige Korrekturen

in arrest genommen
inarrest genommen
‡Ist nicht nöthig [...] besorget
Ist nicht nöthig [...] besorget

Stellenkommentar

Abentheuerlichen Reise
Reisebeschreibung Sulzers, die er Waser offenbar in einem Brief mitgeteilt hatte, nicht ermittelt.
en ambassade
Von einer »Gesandtschaft« Wasers nach Preußen spricht Bodmer auch im Brief an Lange vom 19. März 1746.
en detresse desideriert
Übers.: »in Not vermisst habe.«
einen weitläuftigen Brief
Vgl. Bodmers Brief an Lange, ebenfalls vom 19. März 1746. Abgedr. in: Lange (Hrsg.) Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe , Bd. 1, S. 132–147.
Seine Ode
Langes Ode Friedrichs Zurückkunft in sein Land wurde im Anhang der Horatzischen Oden, 1747, S. 161–166, veröffentlicht.
kleine ode auf Hn Orell
Nicht ermittelt. Lange kündigt in einem Schreiben vom 14. April 1746 an Bodmer an, dass er »dem Hr. Orelln ein bändgen Horatzische Oden« schicken wolle. Dabei handelt es sich um den Verleger Hans Konrad Orelli, der Neffe Bodmers mütterlicherseits war und mehrere Jahrzehnte lang die erfolgreichste Verlagsbuchhandlung Zürichs leitete.
Mecenas atavis p.
Hor. c. 1, 1. Horaz' Widmung an seinen Förderer Maecenas.
keine metaphysischen Controversen
Gemeint ist Langes Streit mit Meier wegen der Frage der prästabilierten Harmonie. In Bodmers Brief vom 19. März 1746 an Lange kommt zwar Meier vor, allerdings nicht in diesem Zusammenhang. Zu dem Streit schrieb Lange an Bodmer am 14. April 1746: »Mein Streit mit H. Meyern wegen der Harm. praestab. wird noch nicht oeffentlich ausbrechen. Wir lieben uns sehr, unser Streit soll dereinsten, wenn wir nach Wolffens Tode denselben vornehmen mehr der Welt ein neues Muster von Streitschrifften und eine Satyre gegen die Streitschrifften als einem Metaphysicalischen Wort Zank zeigen.« (ZB, Ms Bodmer 4.2).
ihrem vorhaben briefe herauszugeben
Zur Herausgabe der Freundschaftlichen Briefe vgl. Ahrens Die freundschaftlichen Briefe 2018. – Hentschel Epistolare Praxis der Anakreontiker und Gellerts Briefreform 2001.
jungen Berner nahmens Tscharner
Der 1728 geborene und sich schon in jungen Jahren im Dichten übende Vincenz Bernhard von Tscharner hatte die Aufmerksamkeit von Bodmer und Breitinger auf sich gezogen und u. a. die hier erwähnte Ode in den Freymüthigen Nachrichten publiziert. Tscharner, der später zeitweilig bei Bodmer in Ungnade fiel, da er dessen Noah kritisiert hatte (vgl. Brief letter-bs-1750-04-01.html), übersetzte auch Gedichte von Hallers und die ersten drei Gesänge von Klopstocks Messias ins Französische. Vgl. Stoye Vincent Bernard de Tscharner 1954, S. 19–74.
Hr. Kitt
Johann Conrad Kitt, ein häufig erwähnter Angehöriger der Zürcher Kaufmannsfamilie Kitt, der zwischen Zürich und Leipzig Handel trieb und die Briefe Bodmers zwischen der Schweiz und Sachsen bzw. Preußen beförderte. Vgl. zu Schweizer Kaufleuten in Leipzig: Lendenmann Schweizer Handelsleute in Leipzig 1978. Kitt wird darin jedoch nicht erwähnt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann