Brief vom 19. Juni 1746, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 19. Juni 1746

Mein Wehrtester Freund.

Ich habe einen Fuß in dem Steigreifen, und kan doch nicht fortkommen, daß ich Euch nicht noch ein petit bout de lettres zuschreibe. Ihr und übrige dasige Freunde werdet mich in den Freundschaftl. Briefen begleiten, welche ich die Berge und Tobel von Trogen lehren will widerhohlend zurükschallen. Ich habe sie erst gestern aus dem buchladen empfangen, wo ich schier zu spät gekommen war, und heute verreise ich. Das denkmal ist zu schwach für einen Rüken, der mit dreifachem leder umgeben ist. Nachdem Gottsched so derbe Prügel empfangen, kan man ihm keine gelindere geben, ohne die erstern insgeheim anzuklagen, daß sie zu hart gewesen.

Die beantwortung ist gut, aber was leicht. Ich hätte Kästnern das Gleichniß von dem ungeschwänzten Fuchse nicht geschenkt. Das Gleichniß wäre artig, hätte ich gesagt, wenn der Schwanz am Fuchse etwas so unnatürliches und unnöthiges wäre, als der Reim am Verse. Aber da der Reim das ist was die Schellen an der Kappe sind, so fängt Kästner ohne Noth ein geschrey an, daß man ihm die Schellen von der Kappe abnehmen will. Ein anders noch, wenn man ihm den Schw... hätte abschneiden wollen. Zudem haben die ungereimten verse nichtsdestoweniger ein Hintertheil. Ich hätte ihm auch den Einfall nicht geschenkt, daß die Erzehlungen nichts poetisches an sich haben, als was ihnen der Setzer durch die Absezung der Zeilen mitgetheilt. – – –

Hr. Mag. Meyers Ursachen des verdorbenen geschmakes sind wahr, aber troken, und nicht unerhört, oder ungesagt, doch muß man den Gottscheden die Wahrheit auf allerley Art widerhohlen. Ich fürchte, daß Hr. Lange Mühe haben werde sein Gedichte auf den Zug nach Sachsen poetisch genug zu machen; die heutigen manieren den Krieg zu führen, unsere Sitten, unsere Ceremonialien, unsere fridenshandlungen leiden die schöne poesie schwerlich. Er darf die Wahrheit, und die Erdichtungen nicht in der gehörigen Freiheit anbringen. Ich wollte schier lieber, daß die horazischen Oden in Berlin oder Leipzig gedrukt würden, ich habe Hn Lange genug darauf gedeutet, daß Orell nicht der dankbarste Verleger sey.

Ich habe einen höflichen brief von dem Rector Damm in Berlin empfangen. Hr. Schlegel hat mir zum andernmal aus Kopenhagen geschrieben, er ist stark um unsern beyfall bemühet. Hr. Hagedorn ist ein redlicher Mann, er ist gewiß unser freund. Er hat mir die fables for the femal sexe gesandt, welche dem Mägdchenfreund Stof zu Einfällen geben könnten. Die Idee des Mädchenfreundes ist vortrefflich. Es soll ein Werk seyn, quod legat ipsa Lycoris. Der Sittenmaler hat die nothwendigkeit sich den Mädchen angenehm zu machen auch eingesehen, aber unser Mädchenfreund muß vertrauter mit ihnen, und mehr ihresgleichen seyn.

Meine Critischen Briefe schikten sich gar nicht unter den Freundschaftlichen; Ich erwarte sie zurüke, damit ich sie zu einem eigenen Werk unter dem Titel Critischer Briefe verbrauchen könne. Habet ihr nichts dergleichen, das dazu dienete? Ich kenne unter den neuen französischen Rhetoricis keinen bessern, als den Abbé Olivet in seinen harangues de Demosthene & de Ciceron.

Rapins Comparaisons sind zu schlecht, daß sie übersezet werden sollten, Popens Vorreden und Anmerkungen zum Homer verdienten es ohne Vergleichung beßer.

Der Mädchenfreund sollte die Romane La duchesse de Cleve, und la Comtesse de Gondez gelesen haben.

Ich sehe in Gellerts Fabeln etliche gute Erfindungen, gute Ausführungen und gute Ausdrükungen. Er hat von der Critik profitirt, und einige ungereimte Stüke, so in den Belustigungen stuhnden, weggelaßen. Hagedorn meint die Fabel von dem Maler ziele auf Gottscheden.

Gottschedens BücherSaal und Geschichte der deutschen Schaubühne verdienen nichts anders, als Turlupinaden, in welchen aber doch Wahrheit liegen muß. Er ist so tief daniedergeleget, daß man ihn nicht mehr ernsthaft tractieren muß.

Ich habe etliche Stüke, die sich vermuthlich in den Mädchenfreund accommodieren lißen, zum Exempel, die Matrone von Ephesus, in Versen; den Cimon ein schäferspiel, da ein dummer schäfer durch die liebe geistreich gemachet wird, – –

Die Ambassade wird dises Jahr noch nicht abgefertiget werden. Wir müßen zuvor noch etliche Hinderniße überwinden. Die Schweizer sind schöner in der Idee, als im Werke. Doch gebe ich die Sache noch nicht von der hand.

Jezo komme ich zu dem Punkt, um deßetwillen ich die Feder ergriffen hatte. Hr. Obmann Landolt, mein Freund seit zwanzig Jahren, und dißmal einer von den sogenannten Häuptern unsers Standes wollte seinen Sohn gern nach Berlin schiken. Er ist jezo zu Neufchatel, französisch zu lernen, und ein artiger, geistreicher, junger Mensch; von solchen Mitteln daß er sich als ein Cavallier aufführen kan. Man sagt hier große Dinge, wie wol Hr. Heß bey dem Hr. Hofprediger Sak stehe, wie lehrreich der Umgang mit disem Hn sey, wie man durch ihn mit den wakersten Standspersonen bekanntgemachet werde. Dises alles hat dem jungen Herren Appetit gemacht, nach Berlin zu gehen. Jezo ersucht euch der Hr. Obmann durch mich, und ich ersuche euch um seinetwillen, daß ihr die Gütigkeit habet, und den Hn Hofprediger sondieret, oder sondieren lasset, ob er ihn nicht auf einen Fuß, wie den Hn Heß, oder ungefehr in pension nehmen würde. Der Mensch ist polit, sittsam, geschlacht, von gutem Verstand, und guter Extraction. Hätte Hr. Sak nicht Gelegenheit ihn anzunehmen, so beliebet euch um eine andere so vil möglich gleich geschikte Person umzusehen, bey welcher der junge Mensch versorget wäre. Man wird dise bemühungen mit allen gegengefälligkeiten erwidern. Und wer weiß was gutes den Wissenschaften daraus enstehen wird, wenn wir künftig unsere jungen Leute nach Berlin schiken, wo vermuthlich der Sitz der Musen in kurzer Zeit seyn wird. [→]Sed manum de tabula, tempus est, ut cum Trogensium alpina gente mugitum eam. Hätten wir Sulzer bey uns so sollte er die dits et faits von unserer Reise alle Abende auf Codicillos verzeichnen. Ich habe das Vergnügen mit Freundschaft und Hochachtung zu verbleiben

Ewr. Ergebenster Dr.
Bodmer.

P. S. Der junge Hr. Landolt würde auf MichelisMesse mit Hiesigen kaufleuten verreisen.

Zürich den 19 Junius 1746

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Anschrift

A Monsieur Soulzer Ministre du S. Evangile presentement dans la Maison de Monsr. Bachmann Marchand tres-renommé à Magdebourg.

Eigenhändige Korrekturen

Kappe abnehmen
Kappe ⌈ab⌉nehmen
soll ein Werk
soll eine ein Werk
umzusehen, bey welcher
umzusehen, ⌈bey⌉ welcher
wir künftig unsere
wir beständigkünftig⌉ unsere

Stellenkommentar

Berge und Tobel von Trogen
Tobel, im alemannischen Raum Bezeichnung für enge Täler und Schluchten. In Trogen im Appenzeller Land lebte Bodmers langjähriger Freund und Vertrauter, der Arzt Laurenz Zellweger, der in seiner »Föhrenen Hütte« seine Gäste empfing. Bekannt war dieser gesellige Kreis für das sogenannte »Schotten trinken« (Molkenkuren). Vgl. zu Zellwegers Kreis in Trogen Faessler Zürcher in Arkadien 1979. – Eisenhut Gelehrte auf Molkenkur 2011.
Gleichniß von dem ungeschwänzten Fuchse
Vgl. [J. G. Sulzer, S. G. Lange], Beantwortung der Critick, 1746, S. 28.
Einfall nicht geschenkt
Ebd. S. 38. G. F. Meier, Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften war 1746 in Halle bei Hemmerde erschienen.
einen höflichen brief von dem Rector Damm
Christian Tobias Damms Brief vom 27. April 1746 (ZB, Ms Bodmer 1a.8). Damm, Rektor des Cöllnischen Gymnasiums in Berlin, suchte mit Verweis auf seine einstige Bekanntschaft mit Pyra die »nähere Bekanntschaft« zu Bodmer und übersandte diesem die von ihm übersetzte »Rede des Cicero pro Ligario«. Er schrieb: »dero vortrefliche Schriften, so wie auch des gelehrten Herrn Breitingers, habe ich mit Vergnügen und Hochachtung gelesen. Ich bin zwar kein Poete; aber ich habe doch Geschmack an den Regeln derselben Kunst, die auf das innere der wahren Poesie gehen.« Damm berichtet Bodmer weiter von den Briefen Ciceros ad diversos, die er »sämmtlich deutsch übersetzt« habe, sowie von seinen Bestrebungen, der »deutschen Beredsamkeit förderlich zu seyn«. Wegen dieser Übersetzung sei er allerdings von den »Herren Leipziger in ihren Critischen Beyträgen und in ihren Belustigungen gar hämisch angefallen« worden. Damm suchte für seine Übersetzung der »Rede des Cicero pro Ligario« einen »Verleger«: »Denn es ist nicht zu sagen, was die Herrn Leipziger vor Abgötter in den Augen unsrer Buchhändler sind«. Damm wünschte, dass das Werk »in Zurch unter die Preße kommen könte«, und bat Bodmer um weitere Vermittlung.
Hr. Schlegel hat mir
Johann Elias Schlegels von 1745 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1749 entstandene Briefe an Bodmer. Bereits im ersten Brief vom 15. September 1745 ist davon die Rede, wie sehr Schlegel Bodmer »schätze, und wie hoch ich iederzeit dero Schrifften, so wohl als Herrn Profeßor Breitingers Werke gehalten habe«. Schlegel bat Bodmer um die kritische Lektüre seiner »beyden Trauerspiele Herrmann und Dido, welche sich in der Deutschen Schaubühne befinden, und meine Abhandlungen von der Nachahmung in den critischen Beyträgen, von welcher der letzte Abschnitt schon längst von mir gearbeitet, aber noch nicht gedrukt ist«. (ZB, Ms Bodmer 4c.6).
fables for the femal sexe
[E. Moore], Fables for the Female Sex, 1744. Vgl. auch Bodmer an F. v. Hagedorn, Zürich, 26. Dezember 1746 (Hagedorn Briefe 1997, Bd. 1, S. 188).
quod legat ipsa Lycoris
Angepasstes Zitat aus Verg. ecl. X, 2: »quae legat ipsa Lycoris« (Übers.: »welchen Lycoris selbst auch lese«). Bodmer spielt darauf an, dass die Zeitschrift von Frauen gelesen werden soll. In Bodmers Mahler der Sitten von 1746 ist ein Verzeichnis einer Bibliothek für die Frauenspersonen zu finden. Hier werden als geeignete Lektüren u. a. Sulzers Auferziehung und Unterweisung der Kinder, Hallers Gedichte sowie Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder empfohlen.
Abbé Olivet
Pierre Joseph d'Olivet, Philippiques de Démosthène et Catilinaires de Cicéron, 1736. Bodmers Exemplar ist erhalten (ZB, Sign. 25.254).
Rapins Comparaisons
Mit Comparaison sind mehrere Werke René Rapins betitelt. Vermutlich ist die Comparaison des Poëmes d'Homère et de Virgile gemeint, da anschließend von Popes Anmerkungen zum Homer die Rede ist.
La duchesse de Cleve
Der 1678 erschienene Roman La Princesse de Clèves stammt aus der Feder von Madame de La Fayette.
la Comtesse de Gondez
Verfasserin von L'histoire de la Comtesse de Gondèz war Marguerite de Lussan.
Gellerts Fabeln
Der erste Band von Gellerts Fabeln und Erzählungen wurde 1746 im Verlag von Johann Wendler publiziert. Zwischen 1741 und 1744 waren insgesamt 34 frühe Fabeln und Erzählungen Gellerts in den Belustigungen des Verstandes und Witzes erschienen.
Fabel von dem Maler
Gellerts Fabel Der Maler, in der ein Athener Maler für seine gekünstelte Darstellung des Kriegsgottes Mars von einem »Kenner« kritisiert und von einem »Geck« hochgelobt wird, erschien in dem erwähnten ersten Band von 1746.
Turlupinaden
Übers. »Verhöhnungen«, nach Turlupin, einer komischen Figur des französischen Theaters des 17. Jahrhunderts.
Matrone von Ephesus, in Versen
Bodmers Matrone von Ephesus blieb unveröffentlicht. Lessing verfasste später ein Lustspiel gleichen Namens.
Hr. Obmann Landolt
Der 1702 geborene Hans Kaspar Landolt war von 1743 bis 1762 Ratsherr und von 1762 bis 1778 Bürgermeister in Zürich. Er gehörte zum Freundeskreis Bodmers und Breitingers.
seinen Sohn
Hans Heinrich Landolt (1726–1762), der einzige Sohn aus Hans Kaspar Landolts erster Ehe mit der 1730 verstorbenen Anna Werdmüller.
wie wol Hr. Heß
Nicht ermittelt. Vielleicht Hans Kaspar Hess (1723–1753), Sohn des durch Seidenhandel reich gewordenen Salomon Hess (1696–1768) und nicht, wie von Lange in einem Brief an Bodmer behauptet, des gleichnamigen Stadtuhrmachers.
Hr. Hofprediger Sak
August Friedrich Wilhelm Sack. Der 1703 in Harzgerode geborene Theologe und Philosoph war seit 1740 Hof- und Domprediger in Berlin und seit 1744 Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften. Sack gehörte zu den engsten Vertrauten Sulzers in Berlin und förderte dessen Laufbahn. Sack war mit dem Magdeburger Kaufmann Heinrich Wilhelm Bachmann d. Ä., dessen Kinder Sulzer in dieser Zeit unterrichtete, befreundet. Außerdem verfasste er die Vorrede zu Sulzers 1745 publizierten Moralischen Betrachtungen über die Schönheit der Natur. Im Hause Sacks hielt sich zeitweilig Sulzers spätere Ehefrau Wilhelmine Keusenhoff auf. Vgl. zu Sack: Pockrandt Biblische Aufklärung 2003.
Sed manum
Übers.: »Doch, die Hand weg von der Schreibtafel, es ist Zeit, dass ich mit dem alpinen Volk unter Trogener Gebrüll gehe.«

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann