Auch ich, mein theürester, wandle noch im irdischen Licht, aber kaum unter Lebendigen, da ich in meinem Zimmer eingeschloßen bleiben muß. Der Herbst hat sich sehr drohend für mich gezeiget und läßt mich wenig von dem Winter hoffen. Ich fühle es, daß mein Geist derselbe ist, aber sein Instrument, ohne welches er so wenig vermag, scheinet abgenuzt, wenigstens überall mit Unreiner Materie beladen, die sein freyes Spiel hemmen. Unlängst drohete mir ein Zufall die ganze rechte Seite meines Körpers lahm und unbrauchbar zu machen. Aber Empfindung und Bewegung kamen doch bald wieder. Aber izt drükt mich eine allgemeine Schwachheit nieder. Glüklich sind Sie, daß Sie sich noch so gut beschäfftigen können, da mich die lange Weile drükt. Aber Arbeit würde mich doch noch mehr drüken.
Hier hat sich seit Kurzem das Gerücht verbreitet, daß Lavater einige Zerrüttung in seinem Verstand erlitten habe. Ich glaube doch, daß sein Kopf überhaupt genommen noch in beßerer Ordnung ist, als sein Hauswesen.
Ich habe doch bey meiner izigen Unthätigkeit die Berlocken gelesen und mich sehr an der kleinen Lobschrifft auf unsern theüren Vater Bodmer, ergözet. Es sind viel starke und Heilsame Wahrheiten in dem Büchelchen, ob ich gleich wünschte, daß sie nicht möchten in dem mir ganz mißfälligen Modeton gesagt seyn. Sie müßen doch, wenn Sie dergleichen Sachen lesen, lebhafft empfinden, wie sehr der gegenwärtige Zustand der deütschen Litteratur über den heraus ist, den Sie, bey ihrem Eintritt in die Litterarische Welt gefunden haben. Denn die heßlichen Fleken, die ihr izt hier und da anhängen, sind doch nur Fleken, die sich leicht abwaschen laßen; im Ganzen und im Wesentlichen steht es sonst gut.
Ein ander Gerücht sagt, daß Wieland sich wieder gegen die DenkungsArt neige in welcher er die Empfindungen eines Christen geschrieben hat. Es ist wol möglich; denn gewiß ists, daß dieser starke Scribent eine schwache Seele hat, die gar leicht auf jede Seite zu wenden ist.
Für Hrn. Escher habe ich mein Portrait eingepakt und werde es auf die N. Jahr Meße an Hrn. Reich schiken. Dort wird es auf Gelegenheit warten, die vielleicht Hr. Escher selbst am füglichsten Herbey bringen könnte, um nach der Schweiz abgeholt zu werden. Es ist noch vor meiner Krankheit gemahlt; denn gegenwärtig bin ich nicht mehr mahlbar.
Ich bin hier, eben da ich in der besten Laune war einen langen Brief zu schreiben, unterbrochen worden, und nun, ein paar Stunden hernach, da ich fortfahren will, finde ich es unmöglich noch etwas zuzusezen, so arm siehet es mit meinem Kopf aus. Dies aber werde ich nicht vergeßen, so lange diese Augen noch offen stehen, Sie als meinen ersten, würdigsten und geliebtesten Freünd und Vater zu seegnen und zu verehren. In diesen Gesinnungen umarme ich Sie von Herzen.
JGSulzer
Berl. den 18 Nov. 1777.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.
Monsieur Bodmer, Membre du Conseil souverain à Zuric frco. Nrnberg