Brief von November 1777, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: November 1777

Mein Liebster.

Es ist mir ein schmeichelhafter, angenehmer gedanke, daß Sulzer an diesen Dingern Geschmak finden wird, dem sonst nicht nur Schnepfen und Rebhühner, sondern auch Julius von Tarent; Stella; Galotti, nicht schmecken. Julius von Tarent, der doch die Einfachheit der seele dem parterre beweiset, weil die last, die diesen tag auf seiner seele lag, ein zusammengeseztes wesen hätte gedrükt, daß die Fugen der theile nachgelassen, und der staub sich zum staube versammelt hätte! Sulzer verübelt dem Alten, der die achtzigste Weinlese gesehn hat, nicht daß er

– – [→]in den sommerlauben gewandelt,
Wo der verehrer Lauras die blümigten Kränze gewunden; –

Sie erlaubt mir die Muse der alten provence aus den dunkeln mönchischen Cellen in unsere rosenfarbene, jungfräuliche Zeit zu bringen, in welcher unsere Heinse liebäugeln wie theatercoketen, und die Jacobi ihr Lächeln vor dem Spiegel üben; während daß Braga mit menschenblute beschmirt, die Kretschman in heilige Trunkenheit wieget.

Sulzer machet mir nicht vorwürfe, die selbst Longin dem guten Homer gemachet hat, daß er in der μνηστηροφονίᾳ zu dem plauderer, dem graubart hinabgesunken sey! Wenn ich sage:

[→]Ob ihnen das spiel der liebe geziemte
Möchte man fragen, –
– – Wie kläglich Said sich grämte
Lag bey Abdallas Kind der Margraf darum nicht unsanfter.

Wenn Sulzer böse wäre, mit welchem Rechte dürft er mir freilich zurufen,

[→]– – In mare nemo
Hunc abicit sæva dignum verāque Charybdi,
Fingentem immanes Læstrigonas et Cyclopas?
Tam vacui capitis populum phæaca putavit?

– – Ich sang doch nicht mit der Muse
Erstgeborenen zu ringen, [→]wie Bürger ringt und mit ihm ringt!
Wie Israel mit Engelskräften rang
Und sprach: dich laß ich nicht du seyst dann mein.

Das genie ist mir nicht gegeben, dem Heinse huldigt, und rühmt, daß es alle seine werke hervorbringe in liebe, leben, und feuer, nicht mit Zirkel, Lineal, und Compaß.

Ich kenne auch das conventionelle nicht, von dem die genialen dichter erzählen, daß es eigentlich der innere Kreis der Kunst sey.

Sie haben mir viel zu verzeihen, und sie verzeihen mir viel; aber werden die männer Gottes, die auf gemeinschaft mit Gott auf Erden warten, mir auch verzeihen, daß ich den Jüngling, der nach Erscheinungen schmachtet, durch Abraham bestrafen lasse? Wird man mir vergeben, daß ich Macaria sang, nachdem ich Isaak gesungen hatte? Wird man es nicht profan heissen, daß ich Isaaks, des sohnes Abrahams, Willigkeit, Gelassenheit, Stille in die seele der Tochter Herkules lege,

– – [→]die ihre brüder zu retten
Muthig, aus eigenem Trieb die schönen jungfräulichen Glieder
Auf den Altar gebükt und ohn Erschüttern ihr blut sah
Fliessen.

Der Kammerer von Küßnach hat es mir um der typischen Anspielungen willen verziehen, die er in meinem Vater der Gläubigen zu erbliken glaubte.

Wenn es Ihnen, mein Liebster, in den Sinn kömmt diesen Vater, der nicht ein gewöhnlicher sondern der Gläubigen Vater ist, zu lesen, so wünscht ich daß sie zuvor unsers apostolischen Lavaters Aufopferung Isaaks gelesen hätten.

Ich habe leider! seit weniger zeit noch mehr autorsünden gesündigt, und Einige gegen Klopstok und gegen Lessing, die ich mich enthalte Ihnen noch zu beichten, nachdem das Sündenregister schon so groß ist, daß ich zuerst von diesen absolviert seyn möchte.

Leben sie ewig wohl. Ich umarme Sie

Ihr
Bo.

Im November 1777.
In sinum tuum!

sind Bürgers Worte, der die Ilias in zehnsylbigten Verse übersezt.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Lesarten

Erstgeborenen
Erstgeborener

Eigenhändige Korrekturen

mir freilich zurufen,
mir ↑freilich↑ zurufen,
wie Bürger ringt und mit ihm ringt!
wie Bürger mit ihm ringt, ringt,ringt und mit ihm ringt!
mit Gott auf Erden warten
mit Gott ⌈auf Erden⌉ warten

Stellenkommentar

Julius von Tarent
Trauerspiel von Johann Anton Leisewitz aus dem Jahr 1774, das 1777 im herzoglichen Hoftheater in Gotha mit Conrad Eckhof in der Titelrolle und dem jungen August Wilhelm Iffland in einer Nebenrolle aufgeführt worden war.
in den sommerlauben
Vgl. [J. J. Bodmer], Wilhelm von Oranse, 1774, S. 3.
Braga mit menschenblute beschmirt
Anspielung auf Braga als Gott der Dichtkunst und des Krieges und auf die gleichnamige Ode Klopstocks. Zudem dürfte sich Bodmer damit auf Carl Friedrich Cramers 1777 erschienenes Buch Klopstock. Fragmente aus Briefen von Tellow an Elisa beziehen (S. 29).
Kretschman
Karl Friedrich Kretschmann, Zittauer Jurist, wurde ab 1768 durch seine im Stil der Bardiete Klopstocks verfassten Gedichte auch als der »Barde Rhingulph« berühmt.
Longin
Bodmer spielt hier auf die Schrift Über das Erhabene an, als deren Verfasser zu seiner Zeit noch der neuplatonische Philosoph Cassius Longinos galt. Heute wird die auf das erste Jahrhundert n. Chr. datierte Schrift einem unbekannten Verfasser (Pseudo-Longinos) zugeschrieben.
Ob ihnen das spiel
J. J. Bodmer, Wilhelm von Oranse, 1777, S. 37 f.
In mare nemo
Iuv. sat. V, 14, 16–18, 23. Übers.: »Wirft denn niemand den da – der die grausame Charybdis verdient hätte, und zwar eine echte -- ins Meer, weil er sich die schrecklichen Lästrygonen ausdenkt und die Kyklopen? [...] Hält er das Volk der Phäaken für solche Hohlköpfe?« (Juvenal, Satiren, 2017, S. 379).
wie Bürger ringt
Gottfried August Bürger, der eine Übersetzung der Ilias in Jamben plante und Proben davon u. a. im ersten Stück des Deutschen Museums unter dem Titel Homers Iliade. Fünfte Rhapsodie lieferte. Bodmer bezieht sich an dieser Stelle auf Bürgers Gedicht An Friedrich Leopold, Grafen zu Stolberg, das wohl als literarischer Ausdruck der Konkurrenz zwischen der eigenen und Stolbergs Ilias-Übersetzungen zu deuten ist. Vgl. Deutsches Museum, 1776, S. 1062 f.: »Ich rang mit ihm/ Wie Israel mit Engelskräften rang,/ Und sprach: Dich laß' ich nicht, du seyst dann mein! --/ Ich komm', ich komme dir! denn ehren mag/ Ein solcher Widersacher das Gefecht./ Wie wird des Sieges Blume meinen Kranz/ Verherrlichen!«.
dem Heinse huldigt
Wilhelm Heinse formulierte seinen genieästhetischen Ansatz u. a. in Der Teutsche Merkur mit dem Beitrag Über einige Gemählde der Düsseldorfer Galerie. An Herrn Canonicus Gleim, 1777, Bd. 2, S. 117–136. Die Ausführungen brachten Heinse den literarischen Durchbruch.
die ihre brüder zu retten
Vgl. [J. J. Bodmer], Makaria. In: [Ders.], Drey epische Gedichte, 1778, S. 5.
verziehen
Nicht ermittelt.
noch mehr autorsünden
Bodmers Odoardo Galotti, Vater der Emilia und Die Cherusken. Ein politisches Schauspiel, 1778.
In sinum tuum!
Gen. 16, 5. Übers.: »In deinen Armen«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann