Izt befinde ich mich, mein theürester, in dem kleinen Elysio, welches die Statt Nizza durch fast unersteigliche Berge von den umliegenden Ländern absondert. Es ist ein kleines aber höchst reizendes Thal, und in demselben wohne ich in einem der größten Gärten, in dem ein immerwährender Frühling herrscht. Eine Fatalität, die Sie von unserm Hrn. Direct. Schulthess erfahren können, hat mich genöthiget Hières eher, als ich dachte zu verlaßen. Aber es thut mir nicht leid es verlaßen zu haben; da ich hier in allen Absichten beßer bin, als dort. Der erste Strahl der aufgehenden Sonne fällt gerade in mein Zimmer, und dieses wolthätige Gestirn verläßt mich hernach den ganzen Tag nicht mehr, bis sein lezter Stral über die westlichen Berge herab glitschet. Die Statt Nizza habe ich mit ihrem Hafen gerade vor mir in einer geringen Entfernung, und etwas zur Seite das mit Millionen Orangen, Feigen und Olivenbäumen besezte Thal, mit angenehmen Hügeln umgeben, über welche Höhere Berge ihr graues Haupt empor heben. Meine Gesundheit hat hier schon merklich gewonnen und ich hoffe, daß der Monat May mich in meiner ehemaligen Gestallt für ihr Gesicht stellen werde. So angenehm und so frühlingähnlich der Winter hier ist, so fühle ich doch schon, daß er mich zu lang abhalten wird die Berge zu übersteigen, die mich von Ihnen trennen. In meiner Jugend hätte die einsamste Hütte in diesem Thal, alle meine Wünsche befriediget; aber bey meinem herannahenden Grauen Alter, hat die Natur mit allen ihren Schönheiten nicht Krafft genug mich ganz zufrieden zu stellen. Meine Sinnen haben izt alles, was sie verlangen; aber das Herz hat Ansprüche, die auch befriediget seyn wollen. Ich merke, daß alle Wärme, die allmählig von den Sinnen wegweichet in das Herz herüber geht. Hierin liegt ohne Zweifel der Grund des immerwährenden Andenkens an die sandigen Ebenen, die meinen Moabitischen Landsiz bey Berlin umgeben, ob sie gleich gegen dieses Thal, eine Wüsteney sind. Aber von dieser Wüsteney muß ich sagen: [→]attalicis conditionibus num quam dimovear. Es ist sehr gut, daß ich nicht in meinen jüngern Jahren diese Reise gemacht habe; sie würde mich vermuthlich abgehalten haben, wieder über die Alpen zurük zugehen.
Was Sie mir von dem guten Lavater schreiben, hat mich traurig gemacht, und ich habe den Dr. Zimmerman ermahnet der ausschweiffenden Phantasie seines Freündes einen Zügel anzulegen. Auch ich habe in Basel Gelegenheit gehabt Proben von der Verderbnis zu sehen, die der Herderismus anrichtet. Es ist ein Unglük, daß das Reich durch so viel innerliche Uneinigkeiten zertheilt ist; denn sonst wär es leicht, das Übel zu hemmen. Wieland wär allein im Stande dieses zu vollführen. Aber izt hat er mit seiner eigenen Noth genug zu thun. La Beaumelle hat mir durch seinen Commentaire sur la Henriade deütlich erkläret, was ich mir selbst nie erklärt hatte; warum ich dieses Gedicht nie habe lesen können. Laßen Sie mich bald vernehmen, daß dieser Winter Ihnen so gut bekomme, als er mir bekommt. Ich umarme Sie von Herzen.
JGSulzer
Nizza den 11. Dec. 1775
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.
An Herrn Profeßor Bodmer
Vermerk Bodmers am linken Rand der ersten Seite: »Taceantur«.