Brief vom 17. Oktober 1775, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 17. Oktober 1775

den 17. Octob. 1775.

Mein lieber director der speculativen Wissenschaften.

Sie lieben mich so partheilich, daß sie mir verzeihen wenn ich Ihnen von keinem bessern gegenstand schreibe als ich selber bin. Seitdem ich exauctoriert bin, werde ich zu mir selbst noch enger eingeschlossen, als ich schon zuvor war. Hören Sie denn meine prouesses. Ich habe Geßlern als ein raubthier aus dem gesträuche erschossen, Wolfenschiessen im Bade mit der Axt niedergeschlagen συες ὡς ἀργιοδοντες. Ich that dieses gegen Iselis abmahnungen der keinen Tyrannenmord unter die Schilderungen grosser thaten gemischet wissen will. Ich habe aber auch Landenbergs Tyranney, und nicht seine Person angefallen. Freilich nur in dramen; in schauspielen für die Ohren. Ich habe mich auch an den fanatisme gemachet; ich habe Arnold von Brescia im jahr 1140. in der uralten Zürch predigen lassen, daß es unvernunft sey mit den Ohren sehn, mit der Nase hören zu wollen.

Ich that dieses in einer Zeit da Lavatern eine unauslöschliche blutgier, drang nach dem der ist so wahr wir sind, empfand, drang der jegliche begierde versengt wie Flammen stroh, drang Erscheinungen Gottes herabzuflehn, wollte er, wollte er nicht, es wagte, es nicht wagte. Er thut dieses in einem drama von der Aufopferung Isaaks. Ich citiere, damit man mich nicht für einen diffamant ausschreye, wie Hottingern wegen der Geschichte in dem sendschreiben. Es ist izt aufgekommen daß man eher diffamationen verzeihet als die kühne Entrüstung eines rechtschaffenen mannes. Es giebt scribenten, die weder unartigkeit noch unbilligkeit aufbringt; derer seele weniger Antheil an dem hat was sie schreibt als ihre feder. Unser alte Breitinger hat Ausfälle auf den Herderianisme gethan, welche die Zeiten nothwendig macheten. Jünglinge von guten köpfen sind uns verderbt worden. Ich weis nicht womit ich verdiene, daß Göthe, Zimmermann, Lenz, Lavater, mich lieb haben. Zimmermann hat mich aus dem pandämonium unreiner Geister, das er in Zürch entdekt hat ausgenommen. Er erzählt diese anecdote in einer gazette, zu welcher er seinen Nahmen unterschrieben hat. Lavater kömmt öfters zu mir, nimmt auch seine gute Frau mit ihm; Er redet dann die menschliche Sprache mit mir, nicht die ätherische die er mit brüdern und schwestern redet. Wie könte ich verstehen: [→]Alles was Gott ist, ist Christus menschlich. Und: Gott wird sich durch Vernunft an der Vernunft rächen.

Ich bin freilich Einer der aus den barbarischen zeiten Leibnizens und Wolfens übrig geblieben ist. Die Herder rühmen, daß diese zeiten vorüber sind. Wielands liebe zu mir ist nur poesie. Er bezeiget außerordentliche sensibilité gegen seine tadler. Klopstok entbeut mir öfters seinen geneigten Willen. Er will künftigen frühling mit dem Margrafen zu uns kommen. Hartmann Rahn ist wieder in seine verlassene Vaterstadt gekommen. Wir wollen ihn zu einem Rathsprocurator machen. Der Grund dazu ist schon gelegt. Gleim ist ernsthaft geworden. Er hat mir seinen Halladat geschikt. Ich habe ihm herzliche dinge geantwortet, launigte. Ich erinnere ihn an die maschinen, die nicht menschen sind, an die bildsaulen auf zwey beinen. Ach! Waser starb, eh er starb. Verzeihen sie mir disen heiligen punn. Er kan die frau nicht entbähren die dem abgelebten manne die pantofeln anlegt. Ich habe ihm Zunder unter der Nase verbrandt, aber ich konnt ihn nicht aufweken.

Beygelegte Dedication hat ein Mspt. bleiben sollen, sie hat aber dem guten alten Mann so wohl gethan, daß er sie druken ließ. Und ich mochte die freude ihm wohl gönnen.

Das eloge funebre de Wieland ist eines Jünglings, der nach Wiz jagt, und der gern wehe thäte wenn er könnte. Es ist Fustian. Wieland hat eine Ode auf mich in den Mercur gesezt, von der er selbst sagt sie sey elend. Sie soll ihm aus der schweiz zugekommen seyn.

Herr von Salis, der das Basedovinum in Marschlinz stiftet, hat mir den Gruß von ihnen gebracht. Lavater ist mit ihm nach Marschlinz gegangen, wo er das Salisinum durch eine festliche Predigt einsegnen wird. Bahrd und Er werden eine Conciliation treffen. Man hat eine brochure, Gasner für Lavater und Lavater für Gasner. Lavater sagt, wenn unter 1000. wundercuren Gasners nur Eine von Gott sey, so sey es verleugnung der Wundergaben des Geistes wenn man sie nicht erkenne. Ich verlasse mich mehr auf die Curen die Nizza thun soll. Wie will ich dann dise stadt lieben! War es nicht schon eine Cur daß sie Hallern, Tissot, Saussure, Bonnet von Angesicht gesehn haben? Voltaire, mein fleischliches Ebenbild, können sie ohne sünde nicht gesehn haben.

Ich mache mir diesen ganzen Winter durch den gedanken zum sommer, daß ich Sie im frühling umarmen werde. Freilich sollen sie dann geburten sehen, die ich mit der Muse erzeugt habe. Gott gebe daß es wizige, geschikte kinder seyn. Ich dachte in währendem Werk der Erzeugung kaum mehr und ernstlicher daran schöne Kinder zu machen, als Wielands Vater ein so seltsames geschöpf wie dieses ambigu ist, zu verfertigen. Ich habe Autorgeheimnisse, die ich dem Papier nicht vertraue.

Ich strecke die Arme bis über den Montcenis zu ihnen.

Ihr Bodmer.

Ein wohldenkender mensch hat das publicum wider an Wielands poetisches Schreiben von der bestimmung eines schönen Geistes erinnert, an seine Sympathien, an die zeiten da die verfasser des geprüften Abrahams und der Noachide an einem Tische miteinander assen; an Wasers schreiben an den verf. der dunciade für die deutschen, die Wieland so laut ankündigte. Izt, so sagt jener, haben die Dunse selbst Dunciaden geschrieben, und Tollhäuser für die Swiften gebaut. Ich fürchte sehr, diese brochure werde Wielanden wild machen, wie er wild war als die Frau la Roche ihm sagte, daß sie sich wohl hüten werde, ihrem töchterchen den Musarion oder den Idris zu zeigen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Zehnder-Stadlin 1875, 447–448.

Anschrift

Pour Monsieur le professeur Soulzer.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Bodmers Zueignungsschrift An Herrn J. H. Meister, Prediger bey der Evangelischen Kirche Küßnach am Zürichsee (Beigebunden in: Bodmer, Arnold von Brescia, 1775, unpag.). – Von unbekannter Schreiberhand ein Extrait d'une Lettre de Ms. Jean André de Luc de Lausanne ce 17me 8bre 1775. an D Hirzel mit dem Wortlaut: »J'ai vu ici un moment un de vos compatriotes, que j'ai en regret de voir si peu et de voir si mal. C'est M Le Pr. Soulzer. Il se proposoit d'aller passer L'Hyver a Nice. Mr. Tissot sur ce que lui ai dit d'Hieres (ou Mslle Schwellenberg a passe L'Hyver passe) lui a conseillé d'y aller et il est parti. Nous avons bien parlé de vous et de notre respectable Bodmer. Je lui ai dit, que je vous ecrirois et il m'a chargé de vous faire bien des amitiés a l'un et a l'autre. Je vous prie d'y ajouter mes tendres Respects pour M. Bodmer.« (Übers.: »Ich habe hier einen Augenblick einen Ihrer Landsleute gesehen, den ich bedauerlich so wenig und in so schlechtem Gesundheitszustand sehe. Es ist der Professor Sulzer. Er nahm sich vor, den Winter in Nizza zu verbringen. Herr Tissot, nach dem, was ich ihm von Hieres (wo Fräulein Schwellenberg den vergangenen Winter verbracht hat) gesagt habe, riet ihm, dahin zu fahren, und ging. Wir haben viel von Ihnen und unserem ehrwürdigen Bodmer gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass ich Ihnen schreiben würde, und er trug mir auf, Ihnen beiden seine Grüße auszurichten. Ich bitte Sie, meinen zärtlichen Gruß an Herrn Bodmer dazuzutun.«)

Eigenhändige Korrekturen

unvernunft sey
unvernunft sey sey
Tollhäuser für die Swiften gebaut.
Tollhäuser für die Swiften ↑gebaut↑.

Stellenkommentar

Geßlern als ein raubthier
Vgl. Bodmers Schauspiel Geßlers Tod, oder das erlegte Raubthier, 1775, 2. Auftritt, S. 7.
Wolfenschiessen im Bade mit der Axt
Hugo von Wolfenschiessen, Figur in Bodmers Schauspiel Heinrich von Melchthal. Zum Mord vgl. 1. Auftritt, S. 3.
συες ὡς ἀργιοδοντες
Hom. Od. 11, 413. Übers. »wie Schweine mit weißen Zähnen«. (Homer, Odyssee, 2014, S. 311).
Iselis abmahnungen
Zum Thema Tyrannenmord äußerte sich Iselin u. a. in seinem ebenfalls 1775 entstandenen Schreiben an Ulysses von Salis von Marschlins über die Philantropinen in Dessau und in Graubünden, 1775, S. 13. Zum Tyrannenmord bei Bodmer und Iselin siehe auch Hubschmid Über Optimismus und Fortschrittsgedanken bei Scheuchzer, Tschudi, Bodmer und Iselin 1950.
Landenbergs Tyranney
Beringer von Landenberg, historische Figur in Bodmers Heinrich von Melchthal.
mit den Ohren sehn, mit der Nase hören
In der Arnold von Brescia beigefügten Widmung an Johann Heinrich Meister heißt es über Arnold: »Er wollte kein Rosenkreuzer seyn, der mit den Ohren sähe, mit der Nase hörte«.
Aufopferung Isaaks
Lavaters Abraham und Isaak. Ein religioses Drama erschien 1776.
Breitinger hat Ausfälle
J. J. Breitinger, Von der so nothwendigen Cultur des guten Geschmacks, zur Beförderung der Wirksamkeit aller nützlichen Erkenntnisse, erschien im Rahmen der Drey Reden bey Anlass der feyerlichen Ankündigung und Einführung des mit hoch oberkeitlichem Ansehen bevestigten Erziehungs-Plans in unsere öffentliche Schule, [1773], S. 79–130.
gute Frau
Anna Lavater.
Alles was Gott ist
Zitate aus Lavaters Vermischte Gedanken. Manuscript für Freunde, 1775, S. 20, 43.
ihm herzliche dinge geantwortet
Bodmers Brief an Gleim vom 21. September 1775 (GhH, Hs. A 313).
erinnere ihn an die maschinen
Ebd.: »Sie erinnern sich, mein lieber, des behaarten Waldbewohners, den die bildsäule auf zwey beinen belehrt hat.«
Waser starb, eh er starb
Die Stelle findet sich wortgleich in dem Brief an Gleim. Johann Heinrich Waser starb erst 1777.
punn
Engl. »pun«. Übers.: »Wortspiel«.
Beygelegte Dedication
Vermutlich die Arnold von Brescia beigebundene Widmung Bodmers An Herrn J. H. Meister, Prediger bey der Evangelischen Kirche Küßnach am Zürichsee.
eloge funebre de Wieland ist eines Jünglings
[J. M. R. Lenz], Eloge de feu Monsieur **nd, écrivain tres célèbre en poésie et en prose. Dédié au beau sexe de l'Allemagne, 1775.
eine Ode auf mich
Die mit »Schm–hl« (Johann Christian Schmohl) unterzeichnete Ode An Bodmer. In: Der Teutsche Merkur, 1775, Bd. 3, S. 14 f.
er selbst sagt
Nicht ermittelt.
eine brochure
Anonym, Lavater und Gaßner, Gaßner und Lavater, zwey merkwürdige Männer, 1775.
Ein wohldenkender mensch
Nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann