Brief vom 30. September 1775, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 30. September 1775

Sie haben mir, mein theürester durch ihr Billet vom 22 dies eine große Freüde gemacht, und mir etwas von ihrer Munterkeit mitgetheilet. Hätte ich nicht so gerechte Furcht, daß die Kälte mich überraschen könnte, ehe ich Lyon am Rüken habe, so könnte ich mich schwerlich entschließen aus ihrer Nachbarschafft mich zu entfernen, ohne Sie mit diesen leiblichen Augen gesehen zu haben. Aber dem Himmel sey es gedankt, es ist Hoffnung da, daß wir uns nach Ablauff des bevorstehenden Winters sehen werden. Ihrenthalber ist hierüber kein Zweifel und auch ich fange an mehr Kräffte zubekommen und werde nach Tißots und Zimmermans Vermuthung in Nizza noch viel dazu gewinnen. Wie wir da unsre Herzen und Köpfe gegen einander ausschütten! Und wie würden sich die Nicolais und Herders und Göthen verwundern, wenn sie sehen und hören könnten mit welcher Gleichgültigkeit, mit welchem Lächeln, wir davon sprechen, daß ihre Philosophie die unsrige den Leüten vergeßen gemacht hat!

Göthe ist in Frankfurth 3 Stunden lang bey mir gewesen und würde allem Ansehen nach noch länger mit mir geplaudert haben, wenn ihn nicht die Nacht weggeruffen hätte. Die Seite von der er mir sich zeigte, (jederman sagt mir er habe zwey, ganz verschiedene) hatte nichts, das mir nicht gefiel. Ich irre mich sehr, wenn dieser junge Mann bey reifferen Jahren nicht ein rechtschaffener Mann seyn wird. Izt hat er den Menschen und das menschliche Leben noch nicht von vielen Seiten betrachtet. Aber sein Blik ist scharff. Sein Freünd Lenz in Straßburg hat sich vorgenommen den Schrifftsteller Wieland unter die Banke zu bringen, und wird seinen Zwek gewiß nicht ganz verfehlen. Lesen sie die von ihm neülich herausgegebene Eclogue Menalk und Mopsus und dan das Eloge funebre de Mr. - - - nd.

Den Alten Haller habe ich wenig gesprochen und nur in vermischter Gesellschafft; er so wol als ich, brachte die meiste Zeit, da ich in Bern war, auf dem Bette zu. Aber sein Geist war munterer, als der meinige damals war. Er urtheilt und spricht über alles, wie einer, der seiner Sache gewiß ist und alles von der Höhe herab sieht.

Ich sehe mein theürester, daß Sie noch immer nahen Umgang mit den Musen haben. Legen Sie mir Ja alles, was Sie seit ein paar Jahren von ihnen gehört und wieder gesagt haben, zurechte, damit ich mich auch daran ergöze, wenn ich bey Ihnen seyn werde. Gestern habe ich in der Schaffhauser Zeitung gelesen, daß der König mich Abwesenden zum Directeur einer Claße der Academie der Wißenschafften ernannt habe. Von Berlin aus hat es mir noch niemand gemeldet. Von heüte über 14 Tage gedenke ich bey dem guten Bonnet in Genthod bey Genff und bey Fernex zu sizen, und dann ein paar Tage darauf nach meinem Winteraufenthalt zu eilen. Ich umarme Sie von Herzen.

JGSulzer

Lausanne ult. Sept.

Von Klopstoks Aufenthalt in Carlsruh werde ich Ihnen seltsame Anekdoten erzählen, die sich nicht schreiben laßen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Stellenkommentar

Göthe ist in Frankfurth 3 Stunden lang bey mir gewesen
Sulzer schildert das Zusammentreffen mit Goethe auch in seinem Reisetagebuch, 1780, S. 17: »Ich hatte doch in Frankfurt das Vergnügen, des bereits in seinen jungen Jahren durch verschiedene Schriften in Deutschland berühmt gewordenen Doct. Göthens Besuch zu genießen. Dieser junge Gelehrte ist ein wahres Originalgenie von ungebundener Freyheit im Denken, sowohl über politische als gelehrte Angelegenheiten. Er besitzt bey wirklich scharfer Beurtheilungskraft eine feurige Einbildungskraft und sehr lebhafte Empfindsamkeit. Aber seine Urtheile über Menschen, Sitten, Politik und Geschmack sind noch nicht durch hinlängliche Erfahrung unterstützt. Im Umgange fand ich ihn angenehm und liebenswürdig.«
Menalk und Mopsus
Die von Jakob Michael Reinhold Lenz 1775 publizierten Schriften Menalk und Mopsus. Eine Ekloge, nach der fünften Ekloge Virgils und die Eloge de feu Monsieur **nd écrivain tres célèbre en poésie et en prose. Zu Lenz und Wieland sowie zu Lenz' satirischer und ironischer Schreibweise vgl. Freytag, Stephan und Winter (Hrsg.) Lenz-Handbuch 2017, S. 19 f.Frank Lenz contra Wieland. An Episode in Eighteenth Century Polemics 1973, S. 456 f.
in der Schaffhauser Zeitung gelesen
Die Meldung stand in der Post- und Ordinari Schaffhauser Mittwochs=Zeitung vom 27. September 1775: »Die durch das Absterben des Herrn Doctor Heinius erledigte Stelle eines Directors bey der Classe der speculativischen Philosophie der Königl. Academie der Wissenschaften und schönen Künsten in Berlin, ist auf Befehl Sr. Maj. dem Herrn Professor Sulzer ertheilet worden.«
bey dem guten Bonnet in Genthod
Zum Aufenthalt auf dem Landgut Charles Bonnets vgl. Sulzer, Reisetagebuch, 1780, S. 60–67. Sulzer war vom 10. bis 16. Oktober 1775 bei dem »berühmten Naturforscher und Philosophen« (ebd. S. 60) zu Gast. Zum freundschaftlichen Briefwechsel zwischen Sulzer und Bonnet siehe Gay Amici della verità e della virtù 2002 und zu den gemeinsamen Unternehmungen, darunter eine Fahrt nach Ferney, Kittelmann Natur- und Landschaftsbeschreibungen in Briefen und Reiseberichten Sulzers 2019, S. 160 f.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann