Je näher ich an den Zeitpunkt rüke, der mich vor ihr Angesicht stellen soll, je unschmakhafter scheinet mir das sonst so große Vergnügen, mich durch geschriebene Worte mit Ihnen zu unterhalten. Es dränget sich eine solche Menge von Begriffen und Empfindungen zusammen, die alle auf einmal heraus wollen, daß ich ganz verwirrt darüber werde. Also begnüge ich mich damit, daß ich Ihnen sage, der Tag meiner Abreise von hier sey auf den 1 May fest gesezt. Ich rechne fünff bis 6 Tage für meinen Aufenthalt in Türin, und eben so viel für den in Mayland, und so werde ich noch vor Ende des Mayen mit Ihnen an dem Gestade der Limmat wandeln, und da werden Sie mir alle Räthsel ihres lezten Briefes vom 22 März auflösen.
Man schreibet mir seltsames Zeüg aus Leipzig von Wieland und Göthe und beyder Duz-Bruder dem jungen Herzog von Weimar. Ich denke die Raserey der Sentimental Autoren werde eben so vergehen, wie schon so manche andere vergangen ist. Wir, mein theürester müßen uns mit der Beobachtung des Cicero trösten: [→]Opinium commenta delet dies, Naturæ judicia confirmat. Ich denke doch, daß wir dem Publico vieles gesagt haben, das in diese zweyte Claße der Dinge gehöret, und darauf man achten wird, wenn die Schwermereyen der Phantasten längst in den Ocean der Vergeßenheit werden versunken seyn.
Man schreibt mir ferner, daß der Betrug der Wundercuren des P. Gaßner endlich auch an den Tag gekommen sey. Vielleicht wird dieses den guten Lavater auch nur einige Schritte näher an die gesunde Vernunfft bringen.
Wielands Logogryphen im Merkur beweisen, was ich längst von ihm geurtheilet, daß er seine Talente wie ein Jude zu Markte trägt um zu schachern. Es ist ihm nur um Geld zu thun.
Ich finde mich stark genug den Weg über die Piemontesischen Alpen zu nehmen, ob ich gleich in der Hauptsache, nämlich an den Lungen wenig gebeßert bin. Morgen werde ich eine Probe machen, wie mir das Reisen über die Berge auf einem Maulthier bekomme; denn ich gedenke einen Ausfall nach Monaco zu thun um dieses sonderbare Fürstenthum durch meine eigenen Augen kennen zu lernen.
Ihr Nachbar Escher im Berg hat mich freündschafftlich eingeladen mein Zelt bey ihm aufzuschlagen. Aber ich halte es für das Beste bey meinem alten Freünd Schultheß einzukehren, wo ich Ihnen beynahe eben so nahe bin, als wenn ich auf demselben Berg wohnte, worauf ihr Haus stehet. Was für ein schöner May wird es nicht für mich seyn, an ihrer Seite die jugendlichen Aufwallungen dieses Jahres zu sehen?
Ich umarme Sie von ganzem Herzen.
JGSulzer
Nizza den 22 Aprill 76.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.
Vermerk Bodmers auf der ersten Seite: »In eunte Junio mense vir mihi amicissimus Nizza Turicum venit.« (Übers.: »Im kommenden Monat Juni kommt der Mann, mein größter Freund, von Nizza nach Zürich.«)