Brief vom 29. Juli 1775, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 29. Juli 1775

Diesen Sommer über, mein theürester, bin ich nie munter genug gewesen um Ihnen schreiben zu können und izt habe ich mich noch nicht ganz von einer Krankheit, die sich zu meinen älteren Gebrechlichkeiten gesellet hatte, erholet. Und doch muß ich Ihnen melden, daß ich mich rüste mich Ihnen zu nähern. Ich soll auf Anrathen der Ärzte den Winter in Italien zubringen, entweder in Nizza oder in Pisa. In drey Wochen trete ich die Reise an, hab es aber nicht einrichten können Sie auf der Hinreise zu besuchen. Ich gehe über Basel, Bern und Lausanne nach Marseille und von da weiter – – Wenn mir aber der Winter Kräffte genug giebt künftiges Jahr die Alpen zu übersteigen, so komme ich über Zürich zurük. Das ist das wichtigste, was ich Ihnen zu schreiben habe. Wenn Hr. Wegman noch bey Ihnen ist, so ersuchen Sie ihn in meinem Namen mir ein Empfehlungsschreiben nach Marseille zugeben. Ich werde es bekommen, wenn es durch Hrn. Dir. Schulthess um die Mitte des Septembers an Hrn. v. Haller nach Bern geschikt wird.

Ich höre sehr viel unangenehmes von den Begegnungen, die der gute Lavater von einigen ihrer dortigen Gelehrten auszustehen hat und es geht mir noch näher zu vernehmen, daß unser Br - - r à la tête dieser Männer steht. Ich dächte doch, daß das viele gute und so gar Große, das Lavater unstreitig hat, ihm manche Schwachheit sollte übersehen machen. Selbst das Werk, das ihm dem Vernehmen nach, viel Spöttereyen zuzieht, die Physiognomik, ist wahrhaftig das Werk eines tieff denkenden Kopfes, über den man nicht spotten sollte.

Sie erwarten bey meinen Umständen, die mich beynahe von allen Lebendigen Gesellschaften ausschließen, und mir sogar nur sehr wenig Umgang mit den Todten oder stummen durch das Lesen erlauben, keine Neüigkeiten. Ich lebe mit meinen beyden Töchtern und einem munteren Knaben, der mich Großpapa nennt, auf meinem prædiolo rustico so vergnügt, als es die unaufhörlichen Leibesbeschwerden mir erlauben. Von Mitau aus höre ich nichts, als Klagen; so daß ich dieser Ganzen Sach überdrüßig bin.

Dr. Hirzel und Sal. Geßner haben sich mir sehr verbindlich gemacht, da sie auf meine Bitte dem Schwager meines Schwiegersohns zu der Pfarre geholffen, die der Kezerfabricant Füßli verlaßen hat.

Reich schreibt mir, daß er Ihnen ihre Exempl. meiner theorie completirt habe. Ich bin glüklich, dieses Werk, so gut oder schlecht es seyn mag, noch zu Ende gebracht zu haben, ehe die Tage gekommen sind, von denen ich sagen muß, sie gefallen mir nicht, und in denen einen Brief zu schreiben eine Arbeit ist, die meine Kräffte beynahe überschreitet.

Gott erhalte Sie mein theürester, daß ich künftiges Jahr die Glükseeligkeit genießen könne mich mit Ihnen abzulezen. Von Basel aus werde ich Ihnen noch schreiben. Ich umarme Sie von Herzen –

JGSulzer

den 29 Jul. 75.

Ich kann für izt Hrn. Escher im Wollenh. nicht befriedigen. Graff hat zwahr seine Frau hergebracht, mußte aber sogleich wieder nach Dreßden und es ist ungewiß, ob er vor meiner Abreise wiederkommt. Dies wird mich bey Hrn. Escher entschuldigen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer.

Stellenkommentar

die Reise
Die Reise ist dokumentiert in Sulzers 1780 im Verlag seines Freundes Philipp Erasmus Reich posthum publizierten Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Vgl. dazu SGS, Bd. 8.
Br - - r
Johann Jakob Breitinger. Vgl. dazu auch Lavaters Brief an Breitinger, Zürich, 19. April 1775 (ZB, FA Lav Ms 553.111).
Kezerfabricant Füßli
Johann Konrad Füssli, der ab 1770 eine dreibändige Neue und unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie der mittleren Zeit publizierte. Vgl. zu Füssli und dessen Vorarbeiten zu einer Ketzergeschichte auch Brief letter-bs-1757-04-04.html. – Lavater-Briner Johann Konrad Füssli 2015, S. 157 f.
Reich schreibt mir
Nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann