Brief vom 2. August 1775, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 2. August 1775

den 2. August. 1775.

Mein theuerster Freund.

Meine sieben und siebzig volle jahre drücken mich ohne mich zu unterdrüken. Mehr drücken mich die 79. jahre der Frau, deren Philemon ich bin. Immer tragen meine Füsse mich noch unter die Linden an dem gestade der Limmat; und immer hör ich die Musen der provenzalen, der minnesinger, Homers, Ossians – wiederschallen; Braga allein schweiget mir.

[→]Die Grafen von Stollberg; von Haugwiz; der von Lindau; Göthen sind zu uns gekommen; sie mögen den deutschen sagen, sie haben einen depontanum besuchen wollen, und seyn zu einem lebenden mann gekommen. Der jüngere Stollberg hat hier einen Freiheitsgesang aus dem 20sten jahrhundert gedichtet, den er mit dedicirte. Er sezt daß nach 200 jahren deutschland ein freyes Volk haben werde, aber er sagt uns das geheimniß nicht durch welche wege sie die Freyheit sich emporheben, noch wie sie aussehen werde. Herder und Klopstok sind in den augen dieser Herren führer des geschmakes, Wieland nur ein Nachtreter. Göthen war bey Lavater logirt, soll ich sagen sein Waffenträger, oder sein Held. Ich fürchte sie mein Freund halten mich für einen Schmeichler, wenn sie hören, daß ich ihre Gunst besize; ich war doch nur fröhlich und polit mit ihnen.

Breitinger, Steinbrüchel, Hottinger werden von ihnen gefürchtet oder gehasset. Sie mochten von mir gehört haben, ich wäre ein Wassertrinker und darum ein Freudehasser. Ich gefiel ihnen da ich lachen konnte.

Glüklicher Monat Julius! Auch der Doctor Zimmermann kam. Er war mir aus dem gesicht gewachsen, mich erkannt er augenbliklich. Er gieng den folgenden tag nach Bern den theuern Haller noch lebend zu sehen. Zimmermann war mir schon vor 20 jahren gut, sie, mein freund, haben ihm so viel schönes von mir gesagt, daß er mich izt für etwas hält. Er hat Breitingern nicht sehen wollen. Er ist Lavaters und Göthens mann; dieses wort verstanden, wie in der feudalverfassung. Das liebste, was ich von ihm vernahm, war, daß sie gewiß nach Pisa gehen; aber mit dem unangenehmen gemischt, daß sie über Straßburg gehen werden. Giengen sie durch die alte Zürch, wo Bodmer noch athmet, so ist ihnen Zimmer und Tafel im Wollenhof bey Escher meinem Neveu bereitet. Er ambitionirt sie zu haben und würde mich nicht für Sulzers Liebling halten, wenn ich ihm diese gunst nicht erhalten könnte. Bey ihm sind sie wie sie bey mir seyn würden, wenn ich 40 jahre weniger hätte. In seinem garten ist die neue Kunstkammer und in der Kunstkammer Homer, Niobe, Bacchus – aus Antiken. In einer schlechtern Kammer ist der buste Bodmers von Sonnenscheins arbeit, von welchem Escher auch die Form besizt.

Seitdem Dänniker die pfarr Feldheim erhalten, wissen sie daß Sie die liebe principum apud nos virorum haben. Es ist so wahr als die älteste Wahrheit daß nicht Dänniker sondern Sulzer, der professor und Academicien dise wichtige Stelle erhalten hat. Dänniker wäre auf unserm Rathhaus nicht Einnehmer des Immi worden.

Womit verdiente ich daß auch Gleim mich lieb hat? Er hat mir durch Zimmermann sein Halladat geschikt. Ich denke das Alter rapprochirt ihn zu mir; da er immer krank gelebt, so wird er gegen dem 60sten jahr nicht stärker seyn als ich gegen dem 80sten. Es war Zeit daß er nach Anakreon, Gresset, Jacobi mit Dullat bekanntschaft machete. Ich muß ihm noch schreiben, eh ich aus der Welt gehe.

Wieland giebt kein sentimentales Zeichen. Breitinger verspricht sich, daß er Herdern vor den Kopf schlagen werde; der mittelst Lavaters Empfehlung unsere Zöglinge eingenommen hat. Lav. und Er wollten wenigstens im Geschmak und dem Styl Epoche machen. Man hat Zürch bey Zimmermann als ein pandämonium angeschwärzet. Klopstok hat uns in die Acht gethan, weil wir nicht an Braga glauben, und ihn nicht für den Lord maire der gelehrten Republik erkennen. Das dritte paket literarischer Briefe ist nicht ad meum palatum. Hartman erwartet daß sein Vaterland ihn reclamiere. Es will ihm nicht gelingen, sagt er, sich vor dem publico zu legitimieren daß es ihm auf sein wort glaubt. Wenn Hartman dise ambition hat, so ist er herzlich blöde.

Unser junge professor Hottinger ist der mann der unsere Kinder vor dem Herderischen fustian behüten kann. Er hat philosophie zu genie, und laune zu geschmak.

Hr. Reich hat mir das Exemplar der Theorie completirt, ich hab es unserm stadtunterschreiber Escher geschenkt, dem sentimentalsten von meinen eléves, und meinem Liebsten.

Hat Graf, ihr Tochtermann, den Matthäi nicht aufspüren können, der bey dem baron von Friesen hofmeister ist? Matthäi hat mir Weissens hochachtung für mich zu der zeit betheuert, da Weisse mich in Klozens Briefwechsel mißhandelte.

Unsere Freunde hier halten Lav. physiognomik für charlatanerie und fustian. Ich bin noch nicht in der laune gewesen, sie einzusehen. Sie haben den begriff nicht, daß man Verstand haben und ein schwärmer seyn könne. Und was ist das genie bey Herder dem schlechten schriftsteller?

Ich behalte meinen Arnold von Brescia, meinen Wilhelm Tell, mein erlegtes Raubthier, meinen Heinrich von Melchthal, meinen Haß der Tyranney und nicht des Tyrannen auf ihre gegenwart. Da sie für ihre theorie, die geburt ihrer alternden Tage so gleichgültig, für ihre Gärten so eingenommen sind, so fürchte ich immer mit meinen Spielwerken der Muse ihnen in die Hake zu fallen. Denn wenn ich dichte, so thu ich doch nichts anders als, illudo cartis. Ist es nicht sträflicher, daß Bodmer der alte, Wilhelm von Oranse und Maria von Braband schreibt, da Bodmer der mann Noachiden geschrieben hat, als daß Gleim der junge mit Anakreon trank und liebte, Gleim der alte mit Dullat prediget? Aber ich verderbe ihnen auch die augen mit meiner zitternden feder. Kommen Sie und sehen. Sie umarmt

Ihr Bodmer

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Eigenhändige Korrekturen

sie die Freyheit sich
siedie Freyheit↑ sich
fürchte sie mein Freund halten
fürchte siemein Freund↑ halten
gefiel ihnen da ich
gefiel ⌈ihnen⌉ da ich
sie, mein freund, haben
sie, |mein freund| haben
dem 60sten jahr nicht
dem 60sten ⌈jahr⌉ nicht
nicht gelingen, sagt er, sich
nicht gelingen ↑sagt er,↑ sich
unsere Kinder vor dem
unsere Kinder ausvor⌉ dem

Stellenkommentar

Stollberg [...] sind zu uns gekommen
Die Reisegesellschaft um Goethe bestand aus den Grafen Friedrich Leopold und Christian von Stolberg, Christian von Haugwitz und Heinrich Julius von Lindau. Sie hielten sich vom 9. bis zum 15. Juni 1775 in Zürich auf. Zum Besuch Goethes bei Bodmer vgl. J. W. Goethe, Dichtung und Wahrheit. Aus meinem Leben, 1833, Vierter Teil, Buch 18, S. 109–111.
jüngere Stollberg hat hier einen Freiheitsgesang
Friedrich Leopold von Stolbergs Freiheits-Gesang aus dem Zwanzigsten Jahrhundert entstand im Juni 1775 und wurde als Einzeldruck mit dem Vermerk »Manuscript für Freunde« publiziert. Es findet sich auch in den von Heinrich Boie 1779 herausgegebenen Gedichten der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. Stolberg publizierte in Der Teutsche Merkur zudem eine Ode mit dem Titel Homer. An Bodmer.
Göthen war bey Lavater logirt
Goethe wohnte bei Lavater in dessen Haus »Zum Waldries«. Vgl. Pfenninger Die Freundschaft zwischen Goethe und Lavater 1965, S. 854.
der Doctor Zimmermann kam
Johann Georg Zimmermann reiste 1775 von Hannover für vier Monate in die Schweiz. In Zürich hielt er sich im August auf und reiste dann nach Bern weiter, um Haller, der sich todkrank wähnte, medizinisch zu betreuen. Vgl. dazu Ischer Zimmermann's Leben und Werk 1893, S. 138 f.
daß sie gewiß nach Pisa gehen
Gemeint ist vermutlich Nizza. Vgl. Sulzers Brief an Zimmermann, der vorgeschlagen hatte, gemeinsam in die Schweiz zu reisen, vom 29. Mai 1775: »Dieser Plan ist im Anfang des Septembers von hier nach der Schweiz, von dort über Genff nach Marseille, und von da aus nach Nizza zu gehen, und zu versuchen, ob der Winter daselbst mir verstatten werde, so zu leben, wie ich hier im Sommer lebe«. (LBH, Ms XLII,1933,A,I,I,93, Bl. 144).
buste Bodmers von Sonnenscheins arbeit
Valentin Sonnenschein, der zeitweilig auch als Zeichenlehrer im Kleinen Kunstsaal wirkte, fertigte neben der ca. 30 Zentimeter hohen Büste Bodmers auch Porträtbüsten von Lavater, Haller und Breitinger an. Vgl. Breitbart Johann Valentin Sonnenschein 1912, S. 13–19, Tafel 17. Von Sonnenschein ist auch ein Keramik-Medaillon Bodmers im Schweizerischen Nationalmuseum überliefert. Der Gipsabguß der Büste, den Bodmer Sulzer übersandte, ist offenbar nicht erhalten.
Immi
Getreidemaß.
mir durch Zimmermann sein Halladat geschikt
Zimmermann schrieb am 11. Juni 1775 kurz vor seiner Abreise in die Schweiz an Gleim: »Mein Wagen ist über und über voll. Drey Exemplare des rothen Buches nehme ich mit, und gebe in Ihrem Nahmen 1 an Lavater, 1 an Hirzel, 1 Haller.« (GhH, Hs. A 4550). Obwohl Bodmer hier nicht erwähnt wird, erhielt er ebenfalls Gleims Halladat oder das rothe Buch. Vgl. dazu Bodmers Brief an Gleim vom 21. September 1775: »Mein theuerster. Ihr Halladat hat mein welkendes leben erquiket; freylich durch die fliessende leichtigkeit und den moralischen Ernst, doch eben so viel durch die Versicherung, die er mir gab, daß sie immer mich lieb haben.« (GhH, Hs. A 313).
mit Dullat bekanntschaft machete
Dullat ist eine Figur in Gleims Halladat.
ihm noch schreiben
Vgl. den Brief Bodmers an Gleim vom 21. September 1775.
Zürch bey Zimmermann als ein pandämonium
Ort des Grauens, auch Hauptstadt der Hölle in Miltons Paradise Lost. Der Begriff taucht im Anschluss an den Streit um Hottingers Sendschreiben mehrmals in den Korrespondenzen Zimmermanns auf. Vgl. auch Zimmermanns Brief an Sulzer vom 28. Juni 1775: »Das Betragen der Züricher gegen Lavater ist über alle Begriffe. Es scheint als wenn die Leüte in Zürich alle an Lavaters Ruhme erstiken wollten. a la téte von allem diesen Nebel und Krötengeschlecht ist der Canonicus Breitinger der von Lavater anders nicht spricht, als: der verzweifelte Lappi!« (LBH, Ms XLII,1933,A,I,I,93, Bl. 147). Siehe auch einen späteren Brief Zimmermanns an Hirzel vom 22. Januar 1776, in dem er Zürich als ein »Pandämonium des Neides« bezeichnet. (ZB, FA Hirzel 240).
dritte paket literarischer Briefe
G. B. von Schirach (Hg.), Litterarische Briefe an das Publicum. Drittes Paquet, 1774.
ad meum palatum
Übers.: »nach meinem Geschmack«.
Hartman erwartet
Hartmanns Brief an Bodmer vom 10. April 1775 aus Mitau: »Ohnehin glaub' ich, daß ich bald wieder nach Teutschland zurückkehren werde, in einigen Jahren hat sich in meinem Vaterland Regierung, und Priesterrock geändert, und mein Vaterland wird mich reclamiren.« (ZB, Ms Bodmer 2a.4).
professor Hottinger
Johann Jakob Hottinger. Siehe dazu auch Sulzers Brief an Hottinger vom 14. Dezember 1776: »Nehmen Sie mein werthester Herr Profeßor, meine zwahr späthe aber sehr herzliche danksagung, für die mir überschikten schönen arbeiten ihres Geistes und Herzens an. Ich sage Ihnen ohne Schmeicheley, der ich nie gewohnt gewesen, daß beyde mir viel Vergnügen gemacht haben und daß ich recht sehr wünsche die Fortsezung der briefe bald in dem Publico zu sehen.« (ZB, Ms Z II 3016).
unserm stadtunterschreiber Escher
Johann Kaspar Escher vom Glas (1744–1829), Schüler Bodmers, der 1774 Unterschreiber geworden war.
Matthäi hat mir Weissens hochachtung für mich
Vgl. Matthaeis Brief an Bodmer, Dresden, 3. Januar 1770: »Herr Weisse in Leipzig, der mich ebenfalls ersuchte von ihm zu schreiben, wie er Herrn Profeß. Bodmer sich auf das beste empfehle und so wie er nie eine Zeile wieder diesen Gelehrten angesezt er auch Zeitlebens nicht dergleichen thun werde; daß er an allen wieder diesen Mann herausgekommenen unangenehmen Schriften weder Antheil noch Vergnügen fände«. (ZB, Ms Bodmer 3.9).
Weisse mich in Klozens Briefwechsel mißhandelte
Vgl. die Stellen in C. F. Weißes Briefen in: J. J. A. von Hagen (Hg.), Briefe Deutscher Gelehrten an den Herrn Geheimen Rath Klotz, 1773, Bd. 1, S. 56, 68.
meinen Haß der Tyranney
Bodmers Der Hass der Tyranney und nicht der Person, oder: Sarne durch List eingenommen erschien als Einzeldruck ohne Angabe eines Verlages 1775.
illudo cartis.
Hor. s. I, 4, 139: »illudo chartis«. Übers.: »bringe etwas davon zu Papier«. (Horaz, Buch 1 der Satiren, 2018, S. 77).
Kommen Sie und sehen
Vgl. Offenbarung des Johannes 6, 1.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann