Brief vom 25. Oktober 1771, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 25. Oktober 1771

Mein theürester Freünd.

Gestern hab ich meine Kinder von mir ziehen laßen, und nun befinde ich mich so einsam, wie ich vor 24 Jahren gewesen bin. Aber meine gegenwärtige Einsamkeit ist doch ruhiger und vergnügter, als jene war; da ich izt für mich selbst keine Wünsche, keine Hoffnungen, keine Entwürffe habe noch mache. Meine Role ist gespielt und nun sehe ich zu, wie andre die ihrige spielen.

Die jüngere Schwester hat ihre ältere begleitet, und ich habe Muth genug gehabt, allein zu bleiben. Es wär bey dieser Epoche alles vollkommen gewesen, wenn Sie, mein Theürester, hier gewesen wären, um den neü vermählten ihren patriarchischen Seegen zu geben. Wir haben doch das Vergnügen gehabt den Leibmedicus Zimmerman dabey zu haben, der von ganzem Herzen, als einer der unsrigen Antheil an allem genommen hat.

Es ist doch gut, daß ich noch die andre Hälffte meines critischen Werks fertig zu machen habe, und damit die einsamen Tage des bevorstehenden Winters anfüllen kann.

Es hat sich keine nähere Gelegenheit gezeiget, Ihnen den ersten Theil zu zuschiken, als die Rükreise meines Nefen. Ich wünsche sehr, daß dieser Theil Sie ermuntern möchte mir über die noch zurüke gebliebenen Materien, ihre eigenen Gedanken, Anmerkungen, und Beobachtungen mitzutheilen, wenn es auch gleich nur ganz kurz, und in abgesonderten Aphorismis geschähe. Es ist allemal, besonders für so lange Werke gut, wenn der Geist eines Schrifftstellers hier und da durch fremde Gedanken, durch neüe Winke und Aussichten, eine neüe Spannung bekommt.

Ob ich gleich für meine persönliche Zufriedenheit über das Schiksal dieses Werks gleichgültig bin, so bin ich doch neügierig zu sehen, wie es wird aufgenommen werden. Der größte theil unsres Publici ist so gutherzig, daß es mehr Geseze anzunehmen, als zu geben geneigt ist. Ich glaube, daß es fast allein darauf ankommen wird, ob mein Name in den Ohren so gut klinget, als etwa die Namen eines Leßings, Wielands u. s. f. Denn dieser Klang allein entscheidet. Noch habe ich nirgend Muth genug entdeket nach eigenen Grundsäzen zu urtheilen. Man spricht denen nach, die das Richteramt auf sich genommen, und würde ihnen eben so nachsprechen, wenn sie das Gegentheil, von dem sagten, was sie izt sagen. Ramler ist der deütsche Horaz, weil es eine gelehrte Zeitung gesagt hat, und Weise ist, als dramatischer Dichter die Ehre Deütschlands aus eben demselben Grund, und doch gähnen die, die so urtheilen, oder vielmehr nachsprechen, bey Weisens Comödien und bey Ramlers Oden. So ists mit unserm Publico beschaffen.

Es wäre doch artig, wenn jemand unsre Gegenwärtigen Schrifftsteller auf eine ähnliche Art mustern würde wie Thomas, oder wer der Verfaßer des Buchs seyn mag in dem L’An deux mille etc. die franz. Schrifftsteller gemustert hat: und man könnte es noch mit mehr Grundlichkeit thun. Wenigstens, hätte ich noch manches Verurtheilet, das er gut seyn läßt. Aber sonst hat der Man an den meisten Orten mir aus dem Herzen gesprochen. Solche frey und ins große denkende Köpfe hat denn freylich unser Deütschl. noch nicht. Ein solcher Man in der Wagschale überwieget die ganze Schaar unsrer wizigen Köpfe so weit, daß sie durch den Schwung der in die Höhe steigenden WagSchale, würden herausgeworffen werden.

Ohne Sie hätte ich die Grazien im Kleinen nicht zusehen bekommen, und wäre einer sehr angenehmen Stunde beraubet geblieben. Das Persiflage ist vollkommen. Ich will doch das Vergnügen, das ich gehabt habe, so vielen andern mittheilen, als ich kann.

Sie hätten zwahr ohne Bedenken, mir die Propheceyung eines vornehmen Rußen, offenbaren können; doch zweifle ich, daß sie mir viel neües würden gesagt haben. Es ist schon lange her daß ich das Urtheil der Verdamnis ausgesprochen habe. Und wenn ich den Einfall gehabt hätte, mich im Traum 700 Jahre vorwerts zusezen, so hätte ich noch mehr gesagt, als der Franzose, ob ich es gleich nicht so gut hätte sagen können.

Hallers Usong ist noch nicht hier. Ich erwarte doch viel davon, ob ich gleich ungesehen unternehmen wollte einige schwache Stellen darin zu errathen.

Bis hieher war ich gekommen, als ich ihren Brief vom 29 Jul. erhielt.

Die Gelegenheit Ihnen den Adelbert wieder zu schiken, ist für diesmal vorbey. Es kann auf Ostern geschehen, und denn kann ich mich ausführlicher über mein Urtheil davon erklären. Ich habe würklich einen Plan entworffen, wie man die Handlung in einem Drama vorstellen könnte und mich dünkt, daß es würklich recht gut angienge, obgleich Schwierigkeiten dabey sind. Ich habe den Plan izt nicht bey der Hand, um ihn Ihnen zu schiken. Seit dem Koch hier ist, fühle ich dramatisches Feüer in mir, dem ich geradezu wiederstehen muß. Ich sehe, daß würklich durch die Schauspiele viel könnte ausgerichtet werden, aber wir müßten rechte Dichter haben. Es ist auch so gar nichts, was man uns zusehen und zuhören giebt.

Der Roman von der Sternh. ist gewiß von M. La Roche. Hier und da erkennet man die weibliche Hand sehr deütlich. Der andre theil ist sehr intereßant. Die Frau hat dem nach allemal mehr Verstand als die meisten, die man für die großen Lichter der deütschen Litteratur ausgiebt.

Dem gewesnen Schulth. Sulzer habe ich ein Glükwünschungsschreiben über seine izige Ruhe geschikt. Aber würklich bin ich der Statt halber nicht ohne Sorgen; denn ich befürchte doch, daß die patrioten nur patriotische Knaben seyen. Es geht mir vielfältig durch den Kopf, daß eine so kleine Statt, so regiert werden könnte, daß auch größere ein Muster davon nehmen könnten. Es scheinet mir gar nicht unmöglich, ein so kleines Stätgen, mit den dabey vorhandenen Gütern und Kräfften, so einzurichten, daß die Einwohner Beneidenswerth seyn müßten. Noch wünschte ich in meinem Leben die Muße zu haben, den schon lang entworffenen politischen Roman, von einem solchen Miniatur Staat nach völlig neüen politischen Einrichtungen, auszuarbeiten,

Herzlich habe ich Sie beklagt, mein theürester, daß Sie auf eine so ungewöhnliche Weise in Trauer gekommen sind. Aber ich traue Ihnen noch weit mehr zu, als daß Sie sich blos nicht an die dummen Urtheile des Pöbels, über eine solche Sache stoßen sollten.

Ich hätte noch über hundert Dinge mit Ihnen zu schwazen, aber ich werde abgeruffen.

Ich umarme Sie von Herzen.

JGSulzer

den 25 Octob.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Körte 1804, S. 379–383.

Stellenkommentar

Ramler ist der deütsche Horaz
Vgl. dazu Košenina Ramler in der zeitgenössischen Rezeption 2003.
wie Thomas
Antoine Léonard Thomas.
Propheceyung eines vornehmen Rußen
Zu dem namentlich nicht genannten Besucher Bodmers aus Moskau siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1771-09-13.html.
Glükwünschungsschreiben
Schreiben Sulzers an Johannes Sulzer nicht ermittelt.
lang entworffenen politischen Roman
Es blieb bei einem (offenbar nicht überlieferten) Entwurf. Ein »politischer Roman« Sulzers konnte nicht ermittelt werden. In frühen Jahren hatte sich Sulzer mehrfach mit politischen und ökonomischen Fragen auseinandergesetzt. Vgl. [J. G. Sulzer], Politischer Versuch Von der Berechnung und Vermehrung der gewissen Einkünfften unsers Landes. In: Vermischte Sammlungen auserlesener alter und neuer Merckwürdigkeiten, 1742, St. 6, S. 533–549. – [Ders.], Betrachtung einiger besondern Vortheile, welche ein Staat von gelehrten Leuten und Künstlern hat. In: Vermischte Sammlungen auserlesener alter und neuer Merckwürdigkeiten, 1742, St. 8, S. 838–850.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann