Brief vom 13. September 1771, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 13. September 1771

Zürch den 13 Sept. 1771

Mein liebster.

Der Factor unserer vielköpfigen Buchhandlung gehet auf die Messe; und ich kan mich nicht mässigen daß ich ihm nicht einige Zeilen an sie mitgebe. Sie sind der Einzige vom Rhein bis zum Belt, an welchem ich noch hange. Ich schreibe Ihnen mehr um meines als um ihres Vergnügens willen.

Der Usong des Hrn. von Haller hat meine Erwartung nicht erfüllet. Ich erwartete sein Ideal einer platonischen Constitution, und er giebt mir einen Monarchen, der genie und ein gutes Herz hat, aber immer ein Monarch ist. Keine Erfindung, keine Verwikelung, kein ὑστερον προτερον; der Styl ist eines Historikers. Es ist das ganze leben Usongs. In der that mit den besten Maximen eines Monarchen übersäet; wir wünschten daß die von Frankreich, von Engelland, von Dännemark sie studirten. Hr. von Hallern Briefe eines alten Vaters sind auf dem Wege zum publico. Noch sind sie nicht vor meine Augen gekommen.

Schwaben verschließt uns immer seine Erndten. Zug und Schwyz sind begriffen uns ihren Käse und ihre Butter, ihre Hüner und Eier zu versagen. Wir selbst lassen von unserer Erndt nichts aus dem lande. Wenn es so fortgehet, so wird jede provinz zu sich selbst eingeschlossen. Dann wird jedes Volk sich mit seinem terrain und dessen produkten naturalisiren müssen. Die Alpenbewohner werden von der Viehzucht leben müssen. Wir von Erdäpfeln. Wir werden den Weinstok aufgeben und Getreid bauen. Wir haben von den manufacturen schon izo wenig trost. Die Anzahl der Einwohner wird sich nach den producten proportioniren, welche das land selbst hervorbringt. Wir werden freilich mühe haben, hart zu essen, uns zu kleiden, zu liegen, zu arbeiten. Aber wenn wir uns einmal nach 2 oder drey Generationen von unserm izigen luxe entwöhnt haben, so werden wir independenter seyn, als wir izo sind. Wir werden nicht mehr nöthig haben vielen umgang mit andern Nationen zu haben. Wir werden dann auch weniger maximen und sitten von andern annehmen. Wir werden einen individualcharakter der Nation bekommen. Wäre es ein Unglük, wenn dises allgemein würde? Die Menschen von einem Land, einem Stamme, fänden daheim Leute genug denen sie sich mittheilen, gegen die sie ihre Geselligkeit ausüben könnten. Kleine Völker leben stiller, bey grossen ist mehr tumult, unruhe, weil mehr Interessen sind.

Ich vermuthe zu uns selbst eingeschlossen und mit weniger bedürfnissen, die jeder durch sich selbst stillen könnte, würden wir weniger Geschäfte haben. Iseli redet von der Arbeitsamkeit als ob sie an sich selbst eine Tugend wäre; wenn die Werke gleich überflüssig und unnüzlich sind. Stultam hanc gloriam puto.

Hr. Lavater hat auf den Bußtag ein Lied gemachet welches er gern von der Kirche gesungen gehabt haben wollte. Seine Confrères haben es nicht gut gefunden. Es ist in der that ein unwürdiges Ding. Gott wird darinn als ein Richter, im Richtergrimme, vorgestellt, als ein rächer, ein Zernichter. – Die Erde bebet, und wir beben nicht. Wir zertreten Gottes Haus. – Es sind in dem liede die unedelsten wörter, wie Fressen, Ehebrechen – Alles ist Gottes und der Kirche unwürdig. Er sollte eine Hymne geschrieben haben, und schrieb Reimlein. Er wollte für den gewöhnlichen menschenverstand schreiben und schrieb für den Pöbel.

Sie sehen, daß wir täglich abnehmen in literis et moribus. Ungeachtet aller sollicitationen selbst von der Canzel unsers rechtschaffenen Antistes ist die schulreforme izt ein ganzes jahr steken geblieben. operam et oleum perdimur.

Ist es gewiß daß das Kochische Theater mit dem Applause vorstellt, und verdient es ihn? Was für stüke sind es, die man vorstellt?

Disen sommer war ein vornehmer Moscowit hier, der mit Berlin recht genau, und selbst mit dem Hofe bekannt ist; seine reden haben mir besorgnisse erwekt, die ich Ihnen aus Vorsichtigkeit verhele.

Ich habe diese tage des Jesuiten Denis dritten Band von Ossian gelesen. Wollen sie mich nicht für neidisch halten wenn ich ihnen aufrichtig sage, daß seine Verse dunkel, zweydeutig, unbestimmt, hartleibigt sind. Aber Denis muß, wie Klopstok, keine Fehler haben.

Denis Ode auf Gellerts Tod gefällt mir schon besser. Ich hoffe sie lesen in den Grazien des Kleinen mehr Ernst und mehr Wahrheit als prima ⟨facies⟩ ostendit.

Unser Poet Abels zeichnet Antiken, voller Nuditäten; und die Censores der bücher wollen ihn anhalten daß er sie ihrer Censur unterwerfe.

Ihr beständiger freund und
diener Bo.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Stellenkommentar

Factor
Leiter der Setzerei bzw. Buchdruckerei.
ὑστερον προτερον
Hysteron-Proteron, rhetorische Figur.
Hr. von Hallern Briefe eines alten Vaters
Hallers Schrift erschien 1772 unter dem Titel Briefe über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung mit einer Widmung an seine Tochter Sophie Charlotte.
Iseli redet von der Arbeitsamkeit
Vgl. Iselins Äußerungen zur »Arbeitsamkeit« in den Beiträgen Der zweyte Palämon, An die Bevölkerung, Ueber die Erziehungs-Anstalten und Ueber die Gelehrsamkeit. In: I. Iselin, Vermischte Schriften, 1770, Bd. 2. Zu Iselin und zur Luxusdebatte und Kommerzkritik um 1770 allgemein siehe Tröhler Republikanismus und Pädagogik 2006, S. 336–343, S. 369–375.
Lavater hat auf den Bußtag ein Lied gemachet
J. C. Lavater, Bußlied, 1771. Das Lied erschien auch in seinen Fünzig christlichen Liedern, 1771, Nr. 21, S. 116–121.
literis et moribus
Übers.: »Kultur und Sitten«.
operam et oleum perdimur.
Übers.: »Mühe und Öl habe ich verschwendet«. Zitat aus der Komödie Poenulus (I, 2, 119) des römischen Dichters Titus Maccius Plautus.
das Kochische Theater mit dem Applause vorstellt
Die Kochsche Bühne war am 10. Juni 1771 in Berlin eröffnet worden. In einem überlieferten Verzeichnis aller auf der Kochschen und Döbbelischen Bühne zu Berlin erschienenen Stücke und Ballette sind u. a. Miß Sara Sampson und Minna von Barnhelm von Lessing, Lust- und Trauerspiele von Christian Felix Weiße sowie Stücke von Molière und Goldoni vermerkt (vgl. Plümicke Theatergeschichte von Berlin 1781, S. 393–402).
ein vornehmer Moscowit
Nicht ermittelt.
Denis Ode auf Gellerts Tod
M. Denis, Auf Gellerts Tod. Gesungen im Winter 1769, 1769.
Poet Abels
Salomon Geßner, der 1758 den Tod Abels verfasst hatte, fertigte seit den 1760er Jahren Vignetten u. a. nach Abgüssen von antiken Gemmen aus der Sammlung Philipp Daniel Lipperts an. Sulzer stand ebenfalls mit Lippert in Kontakt und tauschte sich mit diesem über dessen Dactyliothec aus: »Ihr Supplement hat mir diesen Winter über manche vergnügte Stunde gemacht und macht mir sie noch immer. Denn noch habe ich die Sachen bey mir; weil ich viel Stüke darin finde, die ich gern so lange ansehe, bis ich sie für immer so im Gedächtnis gefasst habe, daß mir ihre ganze Schönheit beständig vor Augen schwebt. Dieses Supplement scheint mir würklich einen merklichen Vorzug vor den zwey vorhergehenden tausenden zu haben; und ihre Anmerkungen übertreffen gewiß alles, was die Antiquari vor Ihnen über vergleichbare dinge gesagt haben.« (Sulzer an Lippert, 8. Februar 1777, BJ, Sammlung Autographa, Mappe Sulzer).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann