Brief vom 4. Juni 1768, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 4. Juni 1768

den 4 Junij.

Ich muß es Ihnen nur gestehen, mein verehrungswürdiger Freünd, daß es nicht immer Geschäfte sind, die mich am Schreiben hindern. Bisweilen ist es Trägheit, Unmuth oder wie das Ding sonst zu nennen ist. Häuffige und anhaltende Zerstreüungen sezen mich so sehr aus der Faßung in welcher ich meine Gedanken sammeln kann heraus, daß auf jene eine Stille folget, die mir ebenso verdrießlich ist, als die gänzliche Windstille dem Seefahrer: Alles, was sonst in der Seele sich zu regen pflegt wird alsdenn schlaff, und bleibt es so lange bis der Geist durch die Last seiner eigenen Trägheit gereizt, sich wieder aufraffet. Gar zu selten wird er durch äußere Gegenstände wieder in Würksamkeit gesezt. Die Politik und die Literatur bringen mir Gegenstände vor Augen, die ich schon tausendmal beurtheilt und verworffen habe. Es geht mir bisweilen, wie einem alten Schwelger, deßen Gaume durch nichts mehr gereizt werden kan. In diesem Zustand nehme ich meine Zuflucht zu meinen Bäumen, Blumen und Hühnern. Mit diesen kan ich ganze Tage lang spielen, als ob sonst nichts in der Welt wäre, das einen denkenden Menschen beschäftigen könnte. Alsdenn ists mir eine wichtigere Arbeit einen kranken Baum durch Beschneiden u. Versezen vom Tode zu retten, als ein Memoire Academique zu machen. Können Sie, mein theürester, mir nicht etwas von der Munterkeit des Geistes geben, die Sie so vorzüglich besizen? Warum bin ich bey einer so weit geringern Last von Jahren, älter, als Sie? Warum scheinen bey mir Wünsche, Begierden, Unternehmungen schon ihr End erreicht zu haben? Soll ich denn schon izt ein blos müßiger Zuschauer bleiben? Warum ist nicht ihr Beyspiel allein stark genug meine schlaffe Würkungskraft zu reizen?

Daß mir aber dieser so ruhige Zustand nicht gefällt, daß ich von Zeit zu Zeit einige Bestrebung fühle mich aus denselben herauszureißen, läßt mich hoffen, daß ich noch in keiner todtlichen Schaffsucht liege. Vielleicht gelingt es mir mich noch einmal in den Stand des völligen Wachens und der völligen Munterkeit zu sezen. Alsdenn soll die Zeit ganz allein meinem Wörterbuch gewiedmet werden. Es ist würklich so weit, daß eine Halbjährige anhaltene Arbeit ihm die lezte Form geben könnte. Bald hätte ihr Atreüs und Thyestes und die Eindrüke des befreyten Theben auf einen Kenner der Griechen, mir die Feder wieder in die Hand gegeben. Wär unser deütschlesendes Publicum noch zu einigem Nachdenken über seinen Geschmak zu bringen, so müßten diese beyden Stüke ihre Würkung thun. Aber Ihnen die Wahrheit zu sagen ich kann von Leüthen denen Abt ein Claßischer Schriftsteller, Ramler ein Horaz, Weiße ein Shackespear, Herder ein Michelangelo ist, unmöglich noch etwas erwarten. Und so lange die Bücher blos in den Händen der Profeßoren, Studenten und der JournalSchreiber sind, so dünkt es mich auch kaum der Mühe werth, für das Gegenwärtige Geschlecht etwas zuschreiben. Wenn es in Deütschland ein Lesendes Publicum giebt, das nicht aus Gelehrten Profeßionsverwandten besteht, so muß ich meine Unerfahrenheit gestehen, daß ich dieses Publicum nicht kennengelernt habe. Ich sehe nur Studenten, Candidaten, hier und da einen Profeßor und zur Seltenheit einen Prediger, mit Büchern umgehen. Das Publicum, von dem diese Leser einen unmerklichen, und würklich ganz unbemerkten Theil ausmachen, weiß gar nicht was Philosophie, Literatur, Moral und was Geschmak ist. Ich kenne Männer von großem Ansehen, von Einflus, von Würde, die den Schuster und den Gelehrten in eine Claße sezen. Beyde sind Handwerksleüthe, nur daß der eine Leder der andre Papier bearbeitet und daß man begreifft, warum es Schuster giebt, aber nicht weiß, wofür eigentlich die Gelehrte Handwerks Leüthe arbeiten. Da sie aber doch die Profeßion vor sich gefunden, so nehmen sie fide implicita gern an, daß sie wozu nüzen wird, und laßen ihr also ihren Werth. Ich habe mehr als einmal eine lebhafte Begierde gehabt mich dem stinkenden Strohm des schlechten Geschmaks zu wiedersezen; aber allemal hat mich die Vorstellung daß kein publicum vorhanden, für welches man schreiben kan, davon abgehalten. Wenn in einem ganzen Land von Millionen Einwohnern ein paar Duzend Narren sind, die sich für Adeptos halten, unter allen übrigen aber die Chymie etwas ganz unbekanntes ist, so scheinet es mir der Mühe nicht werth zu seyn, in diesem Lande die Wahre Chymie bekannt zu machen.

Dieses aber, mein theürester sey nicht gesagt, den Werth ihrer edlen Bemühungen zu verringern, sondern nur zu erklären warum sie izt von weniger Würkung seyn werden. Es wird noch wol eine Zeit kommen, da man Ihnen Gerechtigkeit wird wiederfahren laßen. Überaus seltsam, bald hätte ich gesagt einfältig, komt es mir vor, daß Lavater sich mit den Schweizerliedern in Deütschland einen Namen machen will. Es scheinet mir für diesen redlich gescheiten jungen Man ein unersezlicher Verlust, daß ihm Heß gestorben ist, deßen starke Vernunft jenes Einbildungskraft hätte im Zaum halten können. Ich hoffe, daß ihre Nichte mit dem ehrlichen Escher gut fahren wird. Er ist ein gutmüthiger junger Mensch. Ich habe auch eine Nichte, die ein gewißer Geistlicher, ein Jkr. Escher, der izt als Informator bey dem Pfarrer in Oßingen ist, zur Frau haben möchte. Aber er muß erst eine Pfarre haben. Wollten Sie, mein theürester wol einmal überlegen wie man diesen Expectanten mit einigem Nachdruk denen Herren penes quos arbitrium est, empfehlen könnte? Und wollten sie auch mit unserm Hrn. Chorh. Breitinger darüber sprechen? Die Sache liegt mir am Herzen, weil meine Nichte ein gutes Mädchen ist, die ich nicht gern möchte in die Wüste geführt sehen, wo weder Brod noch Waßer ist. Wenn wir mit einem gewißen Großen Man noch wie ehemals stühnden, so sollte er wol hiebey behülfflich seyn. Ich diene dafür gerne wieder einem Züricher, der hieher sollt verschlagen werden.

Es scheinet, daß die Neüenburger der Schweiz noch ernstlichere Händel machen, als die Genffer gethan. Es ist meines Erachtens ein übler Umstand, daß eben der G. Leut. der ist, der die Sachen berichtigen soll. Ich halte ihn weder dem Verstand noch dem Willen nach für den, der sich am besten dazu schiket. Wir erfahren hier wenig von der Sache. Seit dem ersten Bericht von dem Auflauff, habe ich weiter nichts erfahren, und bin begierig durch Sie etwas zu vernehmen.

Unser ehrliche Pr. Weg. hätte mit seinen Empereurs sehr gut ankommen können, wenn er sich hätte Zeit nehmen wollen, seine Gedanken in einen beßern Vortrag einzukleiden. Es geht mir recht nahe, daß er zu keinem seiner hiesigen Freünde das Zutrauen gehabt, ihr Urtheil davon zu wißen, ehe er das Werk der Preße übergeben hat. Ich fürchte, daß es ungelesen bleiben wird, so viel gutes auch darin ist.

Ihr Brief an Hrn. Müller hat seine gute Würkung gehabt, und ihn ganz munter gemacht. Sorgen Sie dafür, daß von Zeit zu Zeit ihn jemand erinnert, daß er einmal sein Bürgerrecht wieder zu hoffen habe. Es ist ungemein ungereimt, daß Füßli über andrer Stillschweigen klagt. Er schweigt nicht nur selbst, sondern hindert andre Nachricht von ihm zu geben. Es giebt Leüthe in England, die sehr viel aus ihm machen. Aber ich kan nicht erfahren, durch was für Mittel er sich durch hilfft. Die Rußische Kayserin hat unsrer Acad. die Ehre erwiesen ihr ihre Instruktion zu Verfertigung der Geseze zu schiken. Wenn die Frau denkt, wie sie schreibt, so verdient sie noch mehr Cronen. Noch haben wir keine Nachricht, daß Brunner in Moscow angekommen sey.

Ich umarme sie von ganzem Herzen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Körte 1804, S. 359–364.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am unteren Rand der dritten Seite: »reliqua tacentur.«

Eigenhändige Korrekturen

daß man begreifft
daß sieman⌉ begreiffent
aber nicht weiß
undaber⌉ nicht wißen |weiß|
sie izt von
sie ⌈izt⌉ von

Stellenkommentar

Schaffsucht
Verschreibung Sulzers. Gemeint ist »Schlafsucht«.
auch eine Nichte
Anna Margaretha Sulzer, die Kaspar Escher (1737–1821) erst 1778 heiratete, nachdem dieser Pfarrer in Bonstetten geworden war. Vgl. Brief letter-sb-1778-11-17.html.
penes quos arbitrium est
Abgewandeltes Zitat aus Hor. epist. II, 3, 72: »quem penes arbitrium est et ius et norma loquendi«. Übers.: »bei dem die Entscheidung, das Gesetz und die Norm des Sprechens liegen«. (Horaz, Buch 2 der Briefe, Über die Dichtkunst, 2018, S. 617).
mit einem gewißen Großen Man
Vermutlich der Bürgermeister Hans Jacob Leu.
der G. Leut.
Der Generalleutnant Robert Scipio von Lentulus. Vgl. Brief letter-bs-1767-03-06.html.
Pr. Weg. hätte mit seinen Empereurs
J. Wegelin, Caractères historiques des Empereurs depuis Auguste jusqu'au Maximin, 1768.
Brief an Hrn. Müller
Bodmer an Christoph Heinrich Müller, Zürich, 29. März 1768 (ZB, Ms Bodmer 4.24). Bodmer teilte Müller darin mit, dass die »Genfer wider zur Ruh gekommen« sind und dass Müllers Verbannung aus Zürich »in wenigen Jahren könne wieder aufgehoben werden«. Zugleich forderte er Müller auf, die Nähe zur »deütschen Schaubühne, auf der Weisse sich der Empfindung der Nation bemeistert hat«, zu nutzen und sich den »Schönen Wissenschaften« zu widmen.
ihre Instruktion zu Verfertigung der Geseze
Katharina II., Instruction für die zu Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetzbuche verordnete Commission, 1768.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann