Brief 12. – 13. Oktober 1767, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 12. – 13. Oktober 1767

den 12 Oct. 67

Mein theürester Freünd.

Ich size schon wieder vor meinem Camin und übe mich allmählig wieder im Denken, wie einer, der von einem langwierigen Lager wieder aufsteht, sich im Gehen üben muß. Dem Ansehen nach haben wir, meine Kinder und ich, einen guten Vorrath von Gesundheit auf dem Lande eingesammelt. Dies ist doch allerdings ein wesentlicher Theil dieser Irdischen Glükseeligkeit.

Es befremdet mich gar nicht, daß Sie anfangen der politischen Geschäfte müde zu werden, da ich schon lange vom bloßen Zuschauen müde bin. Ich fange an zu fühlen, wie Demokritus unter den dummen Abderiten hat ganz vergnügt seyn können. Die Scenen der würklichen Welt fangen an Scenen der Schaubühne für mich zu seyn. Glüklich wer den Sachen von weitem zusehen kann, und keinen unmittelbaren Antheil daran nehmen muß.

Wieland ist in allewege ein besonderer Mensch. Unstreitig gehört er unter unsre besten Köpfe. In seinem Agathon ist vieles das zur Zeit niemand, weder Grieche noch Franzos beßer gesagt hat, als er. Unsre hieländische Leüthe, von denen die Gelehrte Zeitungen so laut sprechen, unsre Gleime und Ramler und Weiße und Leßinge können doch gewiß nicht neben ihm stehen.

Sie müßen nicht glauben, daß ich selbst dem Land, das ich mir zum Sommer Siz gewählt habe, einen so ungläubigen Namen gegeben habe. Es hat schon von langem her den Namen Moab geführt, und meine Hütte ist viel zu niedrig und zu gering, als ich dadurch den Namen der Gegend ändern könnte.

Sagen Sie doch dem Hrn. Brunner, daß ich ihm antworten werde, wenn ich seine Vocation aus Moscow werde erhalten haben, welches nun in einigen Wochen geschehen muß.

Ich werde Ihnen durch die Meßleüthe meinen Codicem Joachimium schiken. Sie werden aber wenig daraus nehmen können; wir hatten hauptsächlich Policey Geseze nöthig – Izt thue ich mein möglichstes mir die Musen wieder günstig zumachen weil ich den bevorstehenden Winter über meinem Wörterbuch wieder einen neüen Ruk geben möchte.

So weit schrieb ich gestern, um heüte das übrige hinzu zu thun. Aber heüte ist mir die Zeit zum Schreiben benommen worden. Also nächstens ein mehreres.

JGSulzer

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Stellenkommentar

Irdischen Glükseeligkeit
Zum Verhältnis von Natur und Glückseligkeit siehe Arend Glückseligkeit 2019, S. 131–137.
dem Hrn. Brunner
Zu Salomon Brunner vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1767-09-16.html. Eine Korrespondenz zwischen Sulzer und Brunner, der von Moskau aus u. a. mit Lavater im Briefwechsel stand, konnte nicht ermittelt werden.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann