Brief vom 4. April 1767, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 4. April 1767

den 4 Aprill.

Da ich heüte an Hrn. Orell selbst schreibe, so kann ich diese Materie hier ganz übergehen. Nur eines kann ich nicht unbemerkt laßen, weil ich wünsche, daß in ähnlichen Fällen, gewiße unüze Weitläuftigkeiten abgestellt würden. Ich habe in einer Woche 4 verschiedene Briefe über diese Sache erhalten; von Hrn. Orell selbst, von Ihnen, von Hrn. Heß in der Post, und von Hrn. Rittmeister Bürkli, und jeder besonders. Dabey sagt mir kein einziger bestimmt, was ich eigentlich thun soll. Es heißt ich soll mit dem Officier sprechen und ihm etwas sagen, daß man ihm selbst schon geschrieben hätte, daß er vor mir schon gewußt hat. Wozu sollen denn alle diese unnüze Weitläuftigkeiten! Glauben Sie nicht, mein theürester, daß es Hypochondrie sey, wenn mir solches Verfahren mißfält. Sie wißen, daß ich gerne diene, aber unnüzer Weise mag ich nicht gern eine Zeit verliehren, die ich selbst so sehr nöthig habe. Doch dieses sey genug hievon.

Der erstere von ihren Briefen, die ich hier zu beantworten habe, hat mich in Unruh gesezt. Ihre dunkele Sprache über einige Vorfälle die mir unbekannt sind, die Klagen unsers l. Wasers, welche sich auf dieselbe Vorfälle zu beziehen scheinen, haben etwas so ernsthaftes und Kummervolles, daß ich nothwendig üble Dinge daraus vermuthen muß. Ist es denn mit Ihnen schon so weit gekommen, daß man geschehene Dinge nicht erzählen därff? O Mein Freünd, wie sehr befürchte ich, daß ihre kleine Staaten, die so leicht gut zu regieren wären, an noch gefährlichern Krankheiten liegen, als die großen, deren Zustand ich schon für verlohren halte. Mich dünkt, daß in Europa sich alles einer fatalen Verändrung nähere; einer Barbarey, die weit ärger ist, als die, welche von Unwißenheit komt, die ihre Herschaft nicht wie unsre vormahlige über den Verstand, sondern über die Empfindungen ausbreitet. Die Sachen scheinen mir durchgehends so weit gekommen, daß es keinem übel zu nehmen ist, der sich wieder, so viel er kann in den Stand der Natur sezt; der sich selbst so gut er kann aus der Bürgerlichen Gesellschaft heraus begiebt, um nicht mehr als ein würkender Theil darin zu leben.

Wenn die Genffer in ihrer Verlegenheit sich nicht selbst helffen, so werden Sie allem Ansehen nach ohne Hülffe bleiben. Hiob hat noch weit beßere Freünde gehabt, als Genff hat. Das Lam hat einen Löwen und einen Esel um Hülffe gegen einen Wolff angeruffen. Sie haben die Zeit, welche Sie ihrer Calliope gegeben haben, weit beßer angewendet, als die, welche Sie dem Genffer Geschäfte gegeben. Ich danke Ihnen für dieses angenehme Geschenk. Es sezt mich in ein neües Feüer für die Fortsezung meines Werks: aber es liegt noch zu viel Schutt über diesem Feüer, um ihm den Ausbruch zu gestatten.

Füßli beobachtet ein tieffes Stillschweigen gegen mich, so sehr ich ihn gebeten mir etwas von seinen izigen Umständen zu melden. Ich fürchte sehr, daß ich ihn durch die ihm erwiesnen Dienste, die ich doch nicht unersucht gethan, beleidiget habe. Ich habe nahe an 100 Louisd’or auf meiner Rechnung, die ich für ihn bezahlt habe, und dennoch bin ich nicht außer Sorge, daß es ihm nicht noch an mehrerm gebreche.

Ich muß befürchten, daß dieser Brief Sie in der Sorge, die Sie gegen Wägeli über meine Hypochondrie äußern, bestärke. Aber es ist würklich noch keine Gefahr deßhalb vorhanden. Wenn ich Hypochondrisch bin, so bin ich es ohne es zu wißen. Über dem Nebel den Sie um mich sehen, herscht ein angenehmer Sonnenschein und eine völlige Stille. Mein Körper leidet durch kleine Anfälle noch keinen gefährlichen Schaden, und wenn ich etwa unthätiger geworden bin, so rührt es nicht von Mangel der Kräfte her, sondern von der Vorstellung des geringen Nuzens der Würksamkeit. Wie wol auch diese Vorstellung mich gar nicht abhält, etwas zu thun, wozu die Gelegenheit sich anbiethet, nur suche ich diese Gelegenheiten izt weniger, als sonst. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

Sagen Sie doch unserm lieben Freünd Waser, daß ich einem Züricher Kauffman einen Brief von einem Soldaten an seinen Landvogt gegeben habe, mit Bitte ihn dem Hrn. Helffer zuzuschiken. Der Mensch ist aus Rußikon. Da ich nicht weiß in welche Landvogtey dieses Dorff gehört, viel weniger, wer der izige Landvogt ist, so ist der Brief ohne Aufschrift. Der Herr Helffer wird wol so gut seyn die Besorgung deßelben auf sich zu nehmen, und auch mit meinem ältesten Bruder deßhalb zusprechen, an welchen allenfalls, die Antwort kommen wird, wenn man dem Man antwortet.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief eines namentlich nicht genannten Schweizer Soldaten in preußischen Diensten.

Eigenhändige Korrekturen

ihre Herschaft
ihren Siz auf Herschaft

Stellenkommentar

Klagen unsers l. Wasers
Vgl. dazu Wasers kurze Zeit später entstandene Äußerungen in einem Brief an Bodmer vom 17. April 1767: »Ich habe S. wol seit einem jahre, vielleicht noch länger keinen Brief abgegeben: ob in dem leztern, den ich an ihn geschrieben, etwas stehe, das ihm anlaß zu seinen übeln vermuthungen könne gegeben haben, weiß ich unmöglich mehr, und vermuthe es nicht, da er erst izt d brief wieder hervorgenommen habe. Es sind, wie sie wißen, noch andere Canäle auch von hier aus, durch welche er von den Staatsangelegenheiten seiner vaterstatt, und d Genfer H pp berichtet werden kan: jene sind endlich glüklich berichtiget.« (ZB, Ms Bodmer 6.3, Nr. 44).
Hrn. Helffer
Johann Heinrich Waser. »Helffer« ist eine andere Bezeichnung für »Diakon«.
meinem ältesten Bruder
Hans Conrad Sulzer (1714–1793), der als Buchbinder in Winterthur lebte.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann