Brief vom 5. Juni 1763, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 5. Juni 1763

Mein liebster Freünd.

Ich habe dem Hrn. Sekelmeister Orell so eben die Ankunft des Goldenen Gefäßes gemeldet, und bediene mich der mir noch übrigen Paar Minuten, um einen Augenblik mit Ihnen zu plaudern. Unsre Freünde sind überaus vergnügt in Barth, und Füßli ist mit Ihnen gegangen, weil Hr. Mitchell nicht für gut gefunden hat, daß er auf ein ungewißes nach England herüber gehen soll. Er will versuchen ihm eine Condition auszumachen, ehe er hinreißt. Denn er sagt, daß verschiedene junge Leüthe von seiner Art, die in Hoffnung unter zu kommen nach England gereißt sind, ihren Ruin da gefunden p.

Diesen Augenblik tritt Hr. Werdtmüller in die Stube und nöthiget mich also kurz zu seyn. Doch kann ich nicht umhin Ihnen noch eine Anecdote zu melden. Der König, welcher sich lezthin sehr umständlich nach der Einrichtung und den Lehrstunden des Gymnasii erkundiget, fragte unter anderm auch, über was für ein System die Philosophie gelesen werde. Die Antwort des Dr. Heinius, der selbst Prof. der Phil. ist war, über Gottscheds Anleitung, worauf der König lachend sagte. Wie kann man das Werk eines solchen Ignoranten der Jugend in die Hände geben? Zugleich ließ der Monarch sich heraus, daß er mit dem Gymnasio und den Universitäten wichtige Verändrungen vorzunehmen willens sey. Bis jezo aber beschäftigen Ihn die œconomischen Angelegenheiten des Landes noch ganz.

Leben Sie wol und empfehlen Sie mich unsren Freünden.

S.

den 5 Junij

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Der Brief war in einem nicht überlieferten Schreiben an Hans Heinrich Orell eingeschlossen.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »63.«

Stellenkommentar

die Ankunft des Goldenen Gefäßes
Schreiben an Hans Heinrich Orell nicht ermittelt. Vgl. Brief letter-bs-1763-02-25.html.
Hr. Werdtmüller
Der Zürcher Schriftsteller Johann Rudolf Werdmüller, dessen Aufenthalt in Berlin jedoch nicht dokumentiert ist.
des Dr. Heinius
Johann Philipp Heinius, 1688 geborener Theologe, seit 1730 Akademie-Mitglied, seit 1744 (bis 1775) Direktor der Philosophischen Klasse (sein Nachfolger war Sulzer) und und von 1730–1768 Rektor des Joachimsthalschen Gymnasiums.
über Gottscheds Anleitung
Gottsched, der 1734 zum Professor für Logik und Metaphysik ernannt worden war, entwickelte seine philosophischen Grundsätze vor allem in der Schrift Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit, Darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden, Zum Gebrauch Academischer Lectionen entworfen, 1733–1734. Zur Philosophie Gottscheds siehe Achermann (Hrsg.) Gottsched. Philosphie, Poetik und Wissenschaft 2014.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann