Brief vom 6. Februar 1762, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 6. Februar 1762

Mein theürester Freünd.

Es ist mir iezo um so viel lieber, daß ein Schmerz an der rechten Hand mich seit 3 Wochen abgehalten hat Ihnen zuschreiben, da ich iezo meinen Brief durch gute Zeitungen angenehmer machen kann. Wir haben Friede mit Rußland. Der neüe Kayser hat so gleich nach dem Tode der Kayserin einen Offizier an unsern Hof abgeschikt, der uns, wie wol durch zurükhaltende Reden viel gutes von dieser Veränderung hoffen ließ. Gestern aber bekamen wir aus Breßlau von dem König selbst die Nachricht, daß der Krieg mit den Hyperboreischen Völkern ein Ende habe. [→]Der neüe Kayser scheinet eine starke Zuneigung zum König zu haben und eine unüberwindliche Abneigung gegen die Franzosen zu zeigen. Es scheinet aber, daß er gegen Dennemark etwas unternehmen werde. Czernichef ist mit seinem Corps bereits von den Oestreichern abgegangen und durch Schlesien nach Pohlen gezogen. Binnen drey Wochen, werden sie noch andre wichtige Zeitungen hören, und in dieser Zeit wird es auch offenbar werden, wie weit die Ottomanen sich in die Händel einlaßen werden. Alles verkündiget uns einen hellen Sonnenschein, nach so viel trüben Tagen.

Ihren Brutus habe ich mit großem Vergnügen gelesen und werde mich der Erlaubnis bedienen etwas von dem meinigen hinzuzuthun, wie wol dieses vor dem Monat Aprill nicht geschehen kann, den ich in Magdeburg zuzubringen gedenke. Jezo bin ich mit Dingen beschäftiget, die keine Gemeinschaft mit den Gegenständen des Geschmaks haben. Davon werde ich Ihnen ein ander mal Nachricht geben, wenn alles sein Ende wird erreicht haben. Unsre Dichterin ist noch in Magdeburg. Das poetische Schreiben an sie muß ich ihr selber vorlesen. Ich weiß zwahr, daß es ihr in allen Stüken sehr gefallen wird, aber in die Hände soll sie es nicht bekommen, weil sie gewiß einen Mißbrauch davon machen würde. Gleim hat inliegenden Plan zur Ausgabe der Werke dieser Dichterin verfertiget. Es scheinet mir verschiedenes übereiltes darin zu seyn. Allein dies läßt sich nun nicht mehr ändern. Mich hat sie ersucht die Vorrede zu dem Werk zu schreiben, darin ich von ihrem Leben und von ihrem Genie umständliche Nachricht geben werde. Ich weiß nicht ob man Ihnen diesen Plan schon geschikt hat, darum lege ich ihn bey. Thun Sie für dieses außerordentliche Weib, was sie thun können. Wir hoffen so viel für sie zu sammeln, daß sie nicht mehr soll genöthiget seyn ihr Brod an fremden Tafeln zu suchen. Merken Sie sich daß ein neüer Friedrichsdor bey Ihnen ohngefehr 5 12 Gulden ausmacht und 2 Rthlr.. in sächsischem Gelde ohngefehr den vierten Theil deßelben, oder 1 Gulden 16 Schilling. Was Sie zu diesem Behuf sammeln ist gewiß wenigstens so gut angewendet, als was ehedem für den Fuchs ist gesammelt worden.

Ich wünsche Ihnen zu der Bekanntschaft mit Hr. Lambert Glük. Sie sagen mir nichts von ihm, als was ich selbst vorher schon gedacht habe, und es ist nicht meine Schuld, daß er nicht hier ist und von unsrer Academie eine gute Pension hat. Zum Mitglied haben wir ihn angenommen, aber dies ist nicht alles, was ich gerne für ihn gethan hätte. Allein wenn er sich währendem Krieg nicht anderswo fest sezet, so hoffe ich doch, daß wir ihn künftig zu uns ruffen werden.

Ihrem beßern Noah sehe ich mit dem Verlangen eines verliebten entgegen. Wenn Sie mir erlauben wollten eine Vorrede dazu zumachen, so wollte ich darin meine Gesinnungen über die deütschen Kunstrichter aufeinmal so an den Tag legen, daß sie sehr verlegen seyn sollten mir zu antworten. Sie machen sich allerdings unerträglich. Ich habe ihnen zwahr in verschiedenen Artikeln meines Wörterbuchs scharff gezwaget, aber wer weiß wann diese Sachen das Licht sehen werden.

Die Epigoniad habe ich noch nicht können zu Gesichte bekommen, ich habe sie iezt aber unmittelbar aus England verschrieben. Sie sind mit Auftreibung der neüern Schriften sehr viel glüklicher, als wir hier. Unsre Buchführer richten sich nach dem Geschmak unsers Publicum der kaum elender seyn könnte. Hier lesen nur die Jünglinge, die Männer Schmausen, oder Spielen, oder arbeiten im Dienst des Königs und noch viel mehr in ihrem eigenen. Daher ein Mann von Geschmak sich mitten in Berlin ziemlich einsam findet, denn die meisten Leser hangen den Baalim nach. Ich hoffe noch immer mich bald mündlich mit Ihnen hierüber zu besprechen. Aber warum wollen Sie nicht, daß es mir jezo einfalle mein Vaterland und Sie zum lezten mal zu sehen. Soll ich warten, bis meine Freünde nicht mehr da sind? Was sollte mich alsdenn nach dem Lande hinziehen, deßen Berge und Thäler denn das einzige Angenehme für mich wäre? Denn ich bin nicht mehr von der Gemüthsart neüe Freündschaften zu machen. Wenn meine alten Freünde tod sind, so werde ich ganz einsam leben.

Ich habe allerdings an ihrem Satan den Prometheus des Æschylus wiedergefunden. Ich kenne kaum etwas grösseres, als diesen Dichter, wie er in seinen 3 ersten Trauerspielen ist. In meinem Wörterbuch werde ich sehr weitläuftig über die 3 tragicos seyn, weil ich starke Auszüge gemacht habe, ihr Genie dem Leser recht bekannt zu machen. Nun bin ich über dem Homer, aber nicht mit der nöthigen Muße. Ich möchte auch gerne die griechische Grammaticos lesen, wenn ich nur Zeit genug dazu hätte und wenn mir ihre Sprache nur geläuffiger wäre, daß ich ohne Lexicon fortkommen könnte.

Inliegenden Brief bitte mit erster Post zu bestellen. Es scheinet bald, als wenn Gleim mehr auf Hallern; als auf Sie, wegen der Karschin zählte. Dies habe ich aber durch die dritte Hand erfahren, und mag ihm deswegen nichts sagen. Denn es ist überhaupt nicht gut ihm gegen Vorstellungen zu thun.

[→]ὅδ'ἀνὴρ ἐθέλει περὶ πάντων ἔμμεναι ἄλλων, πάντων μὲν κρατέειν ἐθέλει, πάντεσσι δ'ἀνάσσειν, πᾶσι δὲ σημαίνειν.

Eben so wird er auch alle Stüke aussuchen, die in die Samlung kommen sollen oder verwerffen, was ihm nicht ansteht. Aber dadurch müßen Sie sich nicht abhalten laßen ihr Gönner und Wolthäter zu verschaffen. Sein Enthusiasmus für die Karschin geht so weit, daß er keine Fehler weder in ihren Gedanken noch in ihrem Ausdruk sieht.

Grüßen Sie unsre Freünde von mir und unter diesen, den ehrwürdigen Greis von Trogen fürnehmlich. An ihm wird das Sprüchwort Les malheureux ont toujours tort zum Lügner. Sein Held ist ihm im Glük und Unglük gleich groß. Ich möchte die dem Bertrand zugeschriebene Ode wol sehn. Dieser Mensch ist in meinen Augen ein bloßer Scriblerus.

Adieu.

den 6 Febr.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen II 1807, S. 336 f. (Auszug).

Einschluss und mit gleicher Sendung

Von Gleim verfasster Samlungs-Plan, zur Herausgabe der Gedichte der Frau A. L. Karschinn. – Nicht ermittelter Brief von Gleim an Albrecht von Haller.

Stellenkommentar

Friede mit Rußland
Der Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen Preußen und Rußland wurde schließlich am 5. Mai 1762 in St. Petersburg unterzeichnet.
Der neüe Kayser scheinet
Zur Friedrich- und Preußen-Begeisterung von Peter III., der als Nachfolger der am 5. Januar 1762 verstorbenen Zarin Elisabeth das Kriegsszenarium erheblich veränderte, vgl. Kunisch Friedrich der Große 2012, S. 427. – Leonard Reform and Regicide 1993, S. 125–137. – Dassow Friedrich II. und Peter III. 1908.
Czernichef
Der russische General Zacharias Czernichew. Unmittelbar nach dem Tod der Zarin Elisabeth erhielt er am 19. Januar 1762 den Befehl zum Rückzug aus Schlesien. Vgl. Bremm Der Siebenjährige Krieg 2017, S. 313.
inliegenden Plan zur Ausgabe
Der eingeschlossene Samlungs-Plan zur Herausgabe der Gedichte der Frau A. L. Karschinn erschien in: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen 2, 6. Februar 1761, St. 2, S. 89–96. Die Gedichtsammlung wurde auf Pränumeration in den Druck gegeben. Vgl. das »Verzeichniß der Subscribenten« in: A. L. Karsch, Auserlesene Gedichte, 1764, S. XXVII–XL.
die Vorrede zu dem Werk
Vgl. die vier autobiografischen Briefe Karschs (abgedr. in: Karsch Gedichte und Lebenszeugnisse 1987, S. 5–32). Zu Sulzers Vorrede zu Karschs Auserlesenen Gedichten (S. VII–XXVI) vgl. SGS, Bd. 7, S. 429–443.
für den Fuchs ist gesammelt worden
Zur Sammlung für Gottlieb Fuchs, dem mittellosen »dichtenden Bauernsohn«, vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1747-05-18.html.
Zum Mitglied haben wir ihn angenommen
Lambert war am 2. April 1761 von der Akademie zum Ordentlichen Mitglied gewählt, allerdings erst am 10. Januar 1765 von Friedrich II. bestätigt und berufen worden.
Die Epigoniad
W. Wilkie, The Epigoniad, 1759.
den Prometheus des Æschylus
Vgl. dazu auch Sulzers Ausführungen in der AT, Artikel »Aeschylus«, 1771, S. 18 f.
Inliegenden Brief
Nicht ermitteltes Schreiben Gleims an Haller.
ὅδ'ἀνὴρ ἐθέλει περὶ πάντων
Hom. Il. 1, 287–289. Übers.: »Der da will aber stets den andern allen voran sein; Allen will er gebieten im Heer und alle beherrschen, Allen Gesetze erteilen« (Homer, Ilias, 2014, S. 21).
Les malheureux ont toujours tort
Übers.: »Die Unglücklichen haben immer Unrecht.«
ein bloßer Scriblerus
Protagonist einer fiktiven Biografie, die in Zusammenarbeit von John Arbuthnot und Alexander Pope entstand, Hauptakteure des sogenannten Scriblerus-Clubs in London. Die Schrift erschien zuerst anonym 1723, zwei Jahre später mit Verfasserangabe in einer längeren Fassung Memoirs Of the Extraordinary Life, Works, and Discoveries of Martinus Scriblerus. Written by Dr. Arbuthnot and Mr. Pope. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte vgl. Marshall Myth of Scriblerus 2008.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann