Brief vom 1. November 1755, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 1. November 1755

Mein werthester Hr. und Freünd.

Ich habe dem Hrn. Escher der vor 14 Tagen von hier abgereist ist ein Päkgen für Sie mit gegeben, und hatte dem Buchführer Spener von hier aufgetragen einige Neüigkeiten in ein Päkgen zumachen und in Leipzig an einen Züricher Kauffman abzugeben. Jezo erfahre ich aber, daß dieser Duns der Buchführer es nicht gethan hat, welches mich recht arg verdrießt.

Jezo schreibe ich Ihnen fürnehmlich Hr. Wielands wegen. Er hat mir vor einiger Zeit geschrieben, daß er Lust hätte einmal ein noch junges unverdorbenes Kind in seinen Unterricht zu nehmen. Es zeiget sich hier eine Gelegenheit, die für ihn seyn könnte. Ein hiesiger Geheimter Rath, mit dem ich genau bekannt bin hat einen einzigen Sohn von ohngefehr 8 Jahren, ein Kind von sehr guten Talenten, von vorhergehenden Lehrern unverdorben, wol aber von der Mutter etwas verzärtelt. Wenn Hr. Wieland Lust hätte dieses Kind in seine Information zu nehmen so könnte er hier, wie mich dünkt angenehm leben, und weil ich mit meiner Familie ofte das bemeldte Haus, oder Sie uns besuchen, so wäre dieses für ihn und mich desto angenehmer. Der Vater des Kindes ist ein Mann von geringen Einsichten, der aber so wol als die Mutter dem Kinde nach ihrer Einsicht nichts nachsehen, und die deßwegen dem Hofmeister freye Hand ließen. Die Bedingungen wären ungefehr folgende. Der Hoffmeister müßte sich wenigstens auf 5 bis 6 Jahre engagiren. Er würde im Hause wohnen, wo er überflüßigen Unterhalt bekäme, nebst 100 Rthlr.. oder 150 Gulden jährl. Gehalt, welcher von Jahr zu Jahr mit einer kleinen Zulage würde vermehrt werden. Weil der Vater ein Schweizer ist, so kommen alle Wochen ein oder zweymal die hiesigen Schweizerischen Gelehrten Euler, Merian etc. dahin um den Abend da zuzubringen, welches auch verschiedene Annehmlichkeiten hat.

Überlegen Sie nun, werthester Freünd, ob diese Sache sich für ihren Wieland schiket und wenn Sie es für gut halten, so machen Sie ihm den Antrag, und laßen mich so bald möglich ist wißen, ob er, im Fall ihm die Sache ansteht, künftigen Sommer, oder auch noch eher herkommen könnte. Die Reise würde ihm bezalt werden. Ich würde es für einen großen Gewinn schäzen ihn hier zu sehen.

Seit meinem vorigen Brief, den Hr. Escher hat, habe ich die TagesZeiten des Hrn. Zachariä gesehen. Dieser Mann ist der unsrige, wie wol ich gestehe, daß ein Gedicht darin die moralischen Schildereyen so vorzüglich herschen, wie in diesem die Schildereyen der unsittlichen Natur, doch beßer gefällt. Diese sind zwahr sehr angenehm, aber sie müßen nicht allzu häuffig seyn. Tomson und Kleist und Zachariä haben sie, wie mich dünkt zu häuffig angebracht. Laßen Sie mich doch darüber ihr Urtheil erfahren.

Ein frömder der mich bey seiner Durch Reise aus Dennemark komend besucht, bestätigte mir die Nachricht, daß die 10 erste Gesänge der Meßiade auf Umkosten des Königs sehr prächtig gedrukt werden, und daß der Dichter die Vortheile des Verkauffs genießen werde.

Ich habe die Hoffnung aufgegeben, daß das hiesige ansehnliche Publicum die neüen epischen Gedichte lesen werde, nachdem ich gemerkt, daß es Ihm zu sauer wird bisweilen drey oder 4 Verse zu lesen ehe es einen deütlichen Sinn von einer Sache oder ein deütliches Bild gefaßt hat. Es sind Briefe über den Zustand der Schönen Wißenschaften in Deütschland herausgekommen, darin man sich über ihre epische Poesien und über meine Anpreisung derselben sehr unnüze macht. Sie sind nicht aus der Gottschedischen Schule, und enthalten noch manche gute Anmerkungen. Ich hätte beynahe eine Neigung sie Leßing zuzuschreiben. Wenn dieser nicht Verfaßer davon ist, so ist es der hiesige Buchhändler Nicolai, der, welcher den Lauderischen Betrug zuerst in Deütschland bekannt gemacht hat.

Die Ankündigung der Dunciade macht viel aufsehens. Man ist geneigt sie dem Hrn. Zachariä zu zuschreiben. Da ich einmal Leßing fragte, woher es doch kommen möchte, daß ihre epischen Gedichte so wenig critisirt werden, so sagte er: es komme vermuthlich daher, weil sich niemand gerne dem Zorn des Hrn. Wielands aussezen wollte. Er meint man würde vieles davon geschrieben haben, wenn man nicht glaubte, daß Sie zu empfindlich würden, wenn man bisweilen tadelte.

Laßen Sie Hrn. Künzli, wenn Sie ihm schreiben wißen, daß der Hr. von Jarriges, den er hier gekennt hat und der ihn an den ehmaligen Canzler Wolf recommendirt hat vom König zum StaatsMinister und GroßCanzler des Königreichs gemacht worden. Diese Nachricht wird ihn freüen.

Melden Sie mir doch in ihrem nächsten Brief ob Sie den vorigen, den ich Hrn. Escher mitgegeben, und dabey ein kleines Præsent von dem Hrn. v. Haguedorn aus Dresden ist, bekommen haben.

Wer ist doch der Verfaßer des Versuches über das Staatsrecht der Statt Zürich, daß in der Zieglerischen Samlung steht –

Voltaires Pucelle ist nun mehr gedrukt zu haben. Es ist ein Achæron von Gottlosigkeiten und Zoten, das aber von einem großen Theil des hiesigen Publici sehr wol aufgenommen worden ist. Urtheilen Sie ob Noah da aufkommen kann.

Ich bin von ganzem Herzen der Ihrige

Sulzer

den 1 Novemb.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen I 1807, S. 356 (Auszug).

Datierung

Der Brief ist von Bodmer nachträglich fälschlicherweise auf 1756 datiert worden. Er ist 1755 entstanden.

Stellenkommentar

vor einiger Zeit geschrieben
Nicht überliefert.
über ihre epische Poesien
Die entsprechende Kritik an Sulzer und Bodmer in Friedrich Nicolais Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland im 5. Brief (Über die in der Schweiz seit einiger Zeit heraus gekommene epischen Gedichte) und 6. Brief (Vertheidigung dieser Gedichte).
Lauderischen Betrug
Zu William Lauder und dessen Essay on Milton's use and imitation of the Moderns, in his paradise lost siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1752-12-04.html. Nicolais 1753 publizierte Untersuchung, ob Milton sein Verlohrenes Paradies aus neuern lateinischen Schriftstellern ausgeschrieben habe reagierte auf Lauders Schrift.
ihn an den ehmaligen Canzler Wolf
Martin Künzli wurde während seines Aufenthalts in Berlin im Jahr 1753 von Philipp Joseph von Jariges offenbar an Christian Wolff, der im April 1754 starb, in Halle empfohlen. Nähere Informationen zu diesem Kontakt konnten nicht ermittelt werden. Vgl. auch Sulzer an Künzli, 10. August 1754: »Der König ist unlängst durch Halle gereisst und hat dem Prof. Meyer gesagt, daß er Ihm einen Gefallen thun würde, wenn er nicht über Wolffens Schrifften, sondern über Locke oder Mallebranche läse, also wird nun Locke in Halle Wolffens Stelle einnehmen.« (SWB, Ms BRH 512/72), und Sulzer an Künzli am 1. März 1754: »Aus Halle vernihmt man, daß der gute Wolff zusehends stirbt, und also nicht mehr lange wird dauern können. Mit ihm stirbt wol der lezte Weltweise des Leibnizischen Jahrhunderts.« (ebd.).
Verfaßer des Versuches
Der Verfasser vom Versuch einer gründlichen Geschichte des alten Staats-Rechts der Stadt Zürich, der in den Neuesten Sammlungen vermischter Schriften, 1754, erschien, war der Zürcher Stadtrichter und spätere Bürgermeister Johann Heinrich Ott.
Achæron
In der griechischen Mythologie Fluss des Schmerzes und des Leides.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann