Brief vom 18. April 1755, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 18. April 1755

Mein werthester Herr und Freünd.

Ich habe alle ihre Briefe deren Sie in dem lezten erwähnen, den durch Hrn. Bamberger und den durch Gleimen, wol erhalten. Wenn ich Ihnen nicht deütlich oder Stük für Stük antworte, so müßen Sie mir dieses zu gute halten, weil ich sehr ofte zu einer Zeit schreiben muß, da ich den Kopf voll von andern Gedanken habe. Es fehlt mir an der Einsamkeit, welche Sie in ihrer stillen Wohnung zur Seite haben. Meine eigenen privat Angelegenheiten beschäftigen mich schon etwas, und ich bin, ich weiß nicht wie, in eine ziemlich weitläuftige Bekanntschaft gekommen, die mich allzu ofte meinen eigenen Gedanken und Verrichtungen entreißt, so daß ganze Wochen vergehen, darin ich nichts für mich habe thun können.

Ich bin in der that zu einem neüen Leben wiederauferstanden, weil ich jezo mehr, als jemal fühle, daß ich Freünde und Gönner habe, auf die ich mich verlaßen kann. Verschiedene Personen, denen ich kaum dachte dem Nahmen nach bekannt zu seyn, sind freündschaftlich um mich bekümmert gewesen, und ich habe durch die Krankheit Erfahrungen gemacht, die mir wichtig und schäzbar sind. Auch ihre Freündschaft, mein theürer redlicher Bodmer, hat einen weitern Umfang in meinem Herzen eingenommen, da ich in ihrem Schreiben so viel neüe und lebhafte ausgüße des ihrigen über meine wiederherstellung finde. –

Sie können mit vollkommener Zuversicht die Frucht ihrer Arbeit an meiner Seele genießen, da ich Sie mit der gründlichsten Versicherung eines Freündes gewiß machen kann, daß Sie meiner Seele die lezten und beßten Ermunterungen zu einer gründlichen Zufriedenheit und Ruhe gegeben haben. Ihr Noah und Sipha, Ihr Jacob und Joseph haben das durch ihr Exempel an mir gethan, was die Helden des Plutarchus nicht thun konnten. Und an meiner auch wieder erstandenen Wilhelmine zeigen sich gleiche Früchte ihrer gottseeligen Arbeit, und ich werde mich bemühen dieselbe auf meine Kinder fortzupflanzen. Aus diesen Gründen werden mir alle ihre Gegner und ihre kaltsinnige Leser so sehr verächtlich, daß ich sie in den großen Hauffen der mir unbekannten Menschen hineinwerffe. Ich gestehe, daß ich nicht vermuthet hätte, daß solche niederträchtige Anfälle, als die im neologischen Wörterbuch sind, Sie beunruhigen könnten. Wollen Sie einem blinden zumuthen, daß er sehen soll, oder einem Hund verwehren, daß er belle? Ich gestehe Ihnen, daß ich gegen dieses Werk, aus bloßen Nachrichten davon, eine solche Verachtung bekommen, daß ich mich niemal habe überwinden können auch nur etwas davon zu lesen, wie wol es mir in die Hände gegeben worden. Wir müßen, mein Freünd gutes thun, weil unsre Natur ein Wolgefallen daran hat, und nicht darauf sehen, wie wenig andre unsre Verdienste erkennen. Die Biene hört nicht auf Honig zu sammeln, ungeachtet er ihr benommen und unnüze gebraucht wird, und die Nachtigall schlägt, wenn ihr auch niemand zuhöret.

Wenn Sie also von mir nicht sind getröstet worden, so ist es blos deßwegen geschehen, weil mir diese Sache wegen ihrer Geringschäzigkeit ausgefallen. Dieses aber geht mir mehr nahe, daß Männer, die den werth ihrer Epopeen einsehen, und die sonst schnell waren, bey kleinern Gelegenheiten die Feder zu ergreiffen, jezo so stille sizen. Wenn ich ganz Deütschland nach Berlin beurtheilen kann, so kömmt es daher, weil theils wegen Sclaverey, theils wegen überhäufter Arbeit, theils wegen Sorgen der Nahrung, den Menschen der Muth benommen wird. Einige andre verlaßen sich auch auf die Güte der Sache, und überhaupt fehlt es durchgehends an dem Eyfer für wahrheit und Tugend. Ramler ist immer der alte. Leßing ist ein Mischmasch von gutem und schlechtem und noch vor dem Scheideweg. Er kann ganz gut oder auch schlecht werden. In seinen Reden ist er viel beßer, als in seinen Schrifften, und er scheinet mir viel Verstand zu haben. Aber er hat auch noch viel Jugend und eine Anzahl älterer und jüngerer halbgelehrter arbeitet ihn schlecht zu machen. Ich kann ihm nicht beykommen, denn es scheinet, als ob er sich fürchte, ich möchte ungleicher Meinung mit ihm seyn, wenn er sich etwas einließe.

Ich werde ihre Versicherung wegen der Briefe des Hagedorns seinem Bruder geben. Gleim ist sehr hizig gegen Gottsched, und wenn er den Antrag von W. und G. nicht angenommen, so könnte es wol daher kommen, weil er gerne will verborgen seyn. Denn er hat das Herz nicht sich gegen Gottsch. öffentlich zu erklären. Das Lob eines Gottschedianers ist ihm doch immer angenehm.

Es gehen hier seltsame Gerüchte von Hallern herum und diese haben veranlaßet, daß man ihn wieder gerne auf einer hiesigen Universit. hätte. Ich habe ihn unter der Hand erforschen müßen, ob er Lust dazu hätte. Er könnte Canzler in Halle werden mit einem großen Gehalt. Ich erwarte darüber täglich Antwort von ihm. Hæc subrosa.

Hr. Escher schiebt seine Abreise von Monat zu Monat auf und indeßen thut er hier eben nichts, daß mir eine gute Nachbarschaft für Sie hoffen ließe. Seine Erziehung hat ihn in einen Abgrund gesenkt, aus dem ihm sein Verstand schwerlich heraushelffen wird.

Ich weiß nicht woher es kommt, daß Sie und Hr. Helffer Waser mir in ihren Briefen zu verstehen geben, daß Sie wegen meiner Gemüths Ruhe besorgt sind. Ich genieße derselben in einem Grad deßen sich vielleicht wenig Menschen rühmen können, ausgenommen, daß ich oft einige Zeit lang, wegen vielen kleinen abhaltungen nicht recht in die Lage kommen kann, die ich mir wegen einiger gelohnten Beschäftigungen wünsche. Daher komt es, daß ich wenig arbeite. Ich bin jezo daran einen auszug aus den Commentariis petropolitanis für die dortige Academie zu machen. Dadurch hoffe ich von daher eine pension zu bekommen. Sonst habe ich sehr viel Sachen im Kopf dazu mir blos Zeit und Ruhe fehlt. Deßwegen ich Sie dieser Sachen halber glüklich schäze. Werden Sie denn den Noah nicht noch einmal über poliren? Laßen Sie mich doch etwas davon wißen, und wenn Sie das fragment von Lilith wieder bekommen, so werden Sie mir eine große freüde damit machen.

Ich muß hier schon schließen ungeachtet ich hunderte Sachen wie wol dunkel und confuse im Kopfe habe, davon ich Ihnen gerne schreiben möchte. Vielleicht komme ich diesen Sommer zu mehrere Ruhe. Ich wünsche Ihnen eine vergnügt Reise nach Trogen und bitte mein Andenken bey ihren Reisegefährten aufrecht zu erhalten. Ich bin

Ihr ergebenster Sulzer

den 18 Aprill.

Ich erfahre so eben jezo, daß die Briefe vom jüngern Grandison hier unter der Preße sind. Gleim hat sie an Ramlern und dieser an die Drukerey geschikt. Gleim selbst wird vermuthlich gerne sehen, wenn andre die Rache in seinem Nahmen mit verrichten. Er fürchtet sich für jedem Pfeil der Feinde, wenn sie auch blos durch die Kleider fahren sollten.

Kleist hat einen Ekel für die Hexameter auch sogar für seine eigene bekommen.

Klopstok soll eine Vermehrung seiner Pension erhalten haben.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 238–244.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »Im Aprill 1755«. – Auf der dritten Seite »Escher« von Bodmer geschwärzt.

Eigenhändige Korrekturen

Ihr Noah
Ihr e Helden |Noah|
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Stellenkommentar

Helden des Plutarchus
Vermutlich hatte Sulzer in seiner Krankheitsphase neben Bodmer auch Plutarchs Vitae parallelae (Parallelbiographien) antiker Helden gelesen.
im neologischen Wörterbuch
[C. O. von Schönaich], Die ganze Ästhetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch, 1754.
Antrag von W. und G.
Vgl. zum Brief von Wieland und Salomon Geßner an Gleim Kommentar zu Brief letter-bs-1755-01-18.html.
ihn unter der Hand erforschen müßen
Vgl. Sulzers Brief an Albrecht von Haller vom 12. April 1755. (Burgerbibliothek Bern, Sign. N Albrecht von Haller 105.60, Sulzer, Johann Georg:7).
einen auszug aus den Commentariis petropolitanis
Exzerpte Sulzers aus den Commentarii Academiae scientiarum imperialis Petropolitanae, die er vermutlich für den öffentlichen Gebrauch aufbereiten sollte, konnten nicht ermittelt werden.
Briefe vom jüngern Grandison
[J. J. Bodmer, C. M. Wieland], Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, 1755, wurde im Verlag von Christian Friedrich Voß gedruckt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann