Brief vom 9. Oktober 1754, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 9. Oktober 1754

Mein werthester Herr und Freünd.

Ich bin in einer nicht geringen Verlegenheit in so langer Zeit (seit Ostern) keine Briefe von Ihnen zu bekommen. Ich hofte immer auf die Meß Gelegenheit, aber gestern ist von Hrn. Chorh. Zimmerman ein Päkgen angekommen und von Ihnen nichts. Hatten Sie mir denn so gar nichts zu schreiben? Nicht daß Sie sich noch wol befinden? (dies ist keine eitele Nachricht mehr, wenn man nahe an 60 Jahren ist) daß Sie mein Freünd bleiben? Hatten Sie gar nichts aus ihrer Langen Erfahrung mich über eine so sehr Empfindliche Sache, als der Verlust unsrer Theüersten Meliße war, zu trösten. Ich hofte von Ihnen zu erfahren, ob den würklich der Schmerz, der mir Täglich am Herzen nagt doch durch die Zeit wird gemildert werden, oder ob er mich bis in mein alter verfolgen wird. Sie hätten mir aus ihrer eigenen Erfahrung sagen können, ob ein so theüers Bild sich meiner Einbildung wird nach und nach entfernter vorstellen, oder ob es mich immer schreken wird, da ich es gegenwärtig zu sehen, oder zu hören mir einbilde. Wenn Sie mir nur diesen Trost geben könnten, daß diese Täuschungen der EinbildungsKraft aufhören werden, die mir allemal den allerersten Schmerz wieder erneüern, so wollte ich das zärtlichste Andenken, deßen Schmerz sanft ist, gerne immer behalten.

Eben jezo möchte ich am allerwenigsten eine Abnahme der Freündschaft, oder freündschaftlichen Mittheilung von Ihnen erfahren, da ich derselben am allermeisten benöthiget bin. Meine ganze Seele scheint jezo blos Empfindung zu seyn. Mein Herz scheinet jezo mehr Freündschaft, als jemals zu haben. Entstehen Sie ihm jezo nicht.

Mich verlangt hienächst zu wißen, wie Sie sich in ihrer stillen und friedfertigen Wohnung befinden. Ob Sie noch arbeiten, oder blos ihre vorige Arbeit genießen. Wie ofte bin ich in einsamen Stunden bey Ihnen! Was Hr. Wieland macht. Warum er einem so liebenswürdigen Man, als Hr. Spalding ist, auf seinen Brief nicht geantwortet? Ob er, wie mir Gleim schreibt, eine ihm angetragene Stelle im anhaltischen ausgeschlagen?

Ich muß Ihnen doch sagen, daß Hr. Prof. Kies, mein sehr guter Freünd, von der hiesigen Academie, nach seiner Vaterstatt Tübingen ist beruffen worden. Er hat dort viele Freünde, und Vermag am Hofe auch viel. Wenn Hr. Wieland jemahlen in seinem Vaterland Absichten hat, so ist Hr. Kies ein Mann der ihm nüzlich seyn kann, und der mir zu gefallen was thut. Dies sagen Sie ihm mit einem herzl. Gruß von mir.

Hiebey liegt ein Oratorium welches Hr. Ramler auf Hrn. Hofpr. Saks veranlaßung zu einer Kirchen Musik gemacht hat. Sie hat ihm 100 Rthlr.. eingetragen.

Leben Sie mein werthester Freünd wol. Ich verbleibe

ihr ergebenster und getreüster
Fr. u. Dr. Sulzer.

den 9 Octob. 54.

P. S. das Buch von Hrn. v. Hagedorn kam zwahr versiegelt hieher, aber die accise Bediente Haben es aufgemacht.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 214–216 (Auszug).

Einschluss und mit gleicher Sendung

K. W. Ramler, Der Tod Jesu, 1755.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der leeren letzten Seite: »Portrait. Lessings Theater. Aesthetik in nuce. Mylius.«

Stellenkommentar

wie mir Gleim
Nicht ermittelt.
daß Hr. Prof. Kies, mein sehr guter Freünd
Johann Kies war Professor für Mathematik und Physik sowie Astronom der Berliner Akademie und der Berliner Sternwarte. In Tübingen wurde er Professor an dem Collegium illustre.
Oratorium welches Hr. Ramler
Ramlers Oratorium Der Tod Jesu, das 1760 in einer neuen Fassung erschien und u. a. von Carl Heinrich Graun und Georg Philipp Telemann vertont wurde. Das Oratorium geht wohl nicht auf Sack, sondern auf einen Entwurf der Prinzessin Amalie von Preußen zurück, die es laut Ramler »selbst in Musik gesezt« hatte. Vgl. dazu die Widmung zu den geistlichen Kantaten in Ramlers Lyrischen Gedichten, 1772.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann