Brief vom 5. Mai 1752, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 5. Mai 1752

den 5 May. 52.

Mein werthester Freünd.

Ich betrübe mich recht, daß ich zu so vielen malen unvermögend gewesen bin, zu thun, was ich mir so ofte ernstlich vorgenommen hatte. Ich hatte auch Hr. Heß weggehen laßen ohne den Brief vom Parcifall zu geben. Ich begreiffe jezo, wie die Geschäffte des Lebens die besten und ernstlichsten Entschließungen auch in wichtigern dingen aufhalten können. Denn zwey oder drey mal von Ihnen erinnert zu werden, machte mir die Sache sehr wichtig und dennoch vergaß ichs.

Erst gestern habe ich die Rachel und den Jacob bekommen, Noah aber ist noch nicht hier. Erst gestern abend habe ich diese Gesänge der Vorgelesen auf welcher mein Angesicht ruhet, und jezo komme ich ganz frisch von den Träumen die mir viele Bilder und Schildereyen davon wieder vorgestellt. Der Kopf ist mir noch zu warm davon, als daß ich mein urtheil wagen dürffte. Noch getraue ich mir nicht diese Gesänge dem Jacob und Joseph vorzuziehen. Es scheinet hier weniger Regung der Neigungen oder doch weniger Neigungen zuseyn. Bey der ersten Helfte des 1 Gesanges konnte meine Zuhörerin keinen augenblik stille sizen, die vielen neüen Schwünge der Gedanken, und die in so viel Gestallten erscheinende Zärtlichkeit p. rührten den Geist und das Herze so stark, daß auch der Leib gerührt ward. Ich halte dafür daß die Bibel in allen absichten der Poesie mehr zustatten kömmt, als die Fabel. Man könnte nach Ovidii Exempel schöne Heroica oder vielmehr Patriarchica schreiben.

Fehle ich in meiner Muthmaßung, wenn ich von ihnen ein ganzes Gedicht vermuthe, davon Jacob und Joseph, Rachel, Jos. und Zuleika nur Theile sind? Der Eingang und der Schluß der Rachel scheinen es zu bestärken. Sie sind mit den gleichnißen hier etwas sparsam gewesen, und dünken mich auch bisweilen etwas mehr, als zuviel zu wagen.

Mit geizigem ohr die Symphonie trinken ist fürtrefflich und recht gewaget. Aber wie sie den [→]Abendglanz auch so gar auf schwarzen Mauren hüpfen laßen, so folge ich Ihnen ungerne einen verwegenen weg, wann sie zur wolke sagen wolltest du gegen den karg seyn, der selbst so milde gewesen, so bin ich ganz furchtsam.

Jedoch ich will dieses nur für meine ersten Empfindungen und nicht für überlegte urtheile ausgeben. Ich habe an ihren Gesängen noch allemal gemerkt, daß jede neüe wiederholung sie schöner gemacht.

Niemand ist Ihnen mein werthester, mehr dank für ihre Arbeit schuldig, als junge Liebhaber, deren Schönen noch Geschmak und Empfindung haben, und denn Väter, denen daran gelegen, ihren Söhnen und Töchtern außer den Höhern Empfindungen auch offenherzige und von der Verderbniß der welt unangestekte Zärtlichkeit einzupflanzen. Ich bin in beyden absichten ihr Schuldiger, und ich sehe mit Verlangen den Tagen entgegen, da ich die lieblich lächelnde Meliße die Reden der Patriarchischen Mädchen werde stammeln lehren. Die Stelle darin sie dieser noch unreiffen Blume gedenken wollen zeüget viel zu sehr von ihrer Zärtlichkeit gegen mich, als daß ich sie nicht hätte küßen sollen. Sie müßen aber nicht als ein Freünd, sondern als ein Criticus zusehen, ob sie gut steht. Die Stelle wo sie von sich selber sprechen und auch die andre aus dem Noah sind fürtrefflich, und warum wolte ihnen nicht erlaubt seyn, was nicht nur Virgilen und Miltonen sondern Mahlern und Bildhauern erlaubt ist?

Ich habe Hedlingers Kopf ofte unter den Ornamenten gesehen, die die Köpfe gekrönter Häupter begleiten. Dieses ist schon in Jure gentium für Virtuosen zum Vorrecht geworden. Ich werde die Hymne gleich nach Leipzig schiken und Reichen das übrige zugleich schreiben. Geßner steht nicht nur sich sondern Ihnen selbst im Licht. Ich bin gewiß, daß ohne eine neüe Auflage Noah an hundert orten unbekannt bleiben wird.

In ihren Versen an Melißen ist keine physische Unwarheit, aber ihr NB. hat mich thränen gekostet. Warum sollten wir so wenig hoffen. Meliße wird nicht auf ihren, sondern auf ihres Sohnes grab=Hügel rosen streüen und beweinen, daß ein solcher jüngling nicht für sie geschaffen, und als denn sollen Sie Melißen von Stunde an so lieben, wie sie die Gemahlin ihres Sohnes würden geliebet haben.

Wir warten mit Schmerzen des Noah. Ich will mit ihrer Erlaubniß ein Exempl. davon in ihrem Nahmen Hrn Spalding schiken, dem würdigsten Menschen den ich unter dem deütschen Himmel angetroffen.

Ich werde auf mich selber böse, da ich aus ihrer Nachricht sehe, daß ich durch meine Schuld Wielanden nicht kenne. In Closter Bergen war er mir so nahe, als Breitinger ihnen ist. Ich wohnte in Magdeburg am thore, außerhalb deßen das Closter Bergen liegt, und Wieland muß zu meiner Zeit eben da gewesen seyn. Ich war ofte dort und habe ihn vielleicht gesehen. Adieu. Ich und mein Haus grüßen mit aufwallenden Herzen Sie und das ihrige.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 176–180 (Auszug).

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am unteren Rand der zweiten Seite zu »Mauren hüpfen«: »Conter literas Zellwegeri.« – Vermerk Bodmers ebd. zu »ganz furchtsam«: »Conter pops remark zum 502 v. der IV. Ilias.«

Eigenhändige Korrekturen

Der Eingang
Der AnfEin⌉gang
unangestekte Zärtlichkeit
unangestekte Empf Zärtlichkeit
Sohnes grab=Hügel
Sohnes Hügel grab=Hügel

Stellenkommentar

Symphonie trinken
[J. J. Bodmer], Jacob und Rahel, 1752, S. 9, Vers 136.
Abendglanz [...] schwarze Mauern hüpfen
Ebd. S. 6, Vers 64.
zur wolke sagen
Ebd. S. 36, Vers 25.
lieblich lächelnde Meliße
Kosename für Sulzers erste Tochter Henriette Wilhelmina. Der Name taucht häufiger in der bukolischen Idyllen- und Hirtendichtung der Zeit auf.
Hedlingers Kopf
Der Maler und Medailleur Johann Karl von Hedlinger schuf u. a. Medaillen auf Friedrich II. und Maria Theresia. Er war auswärtiges Mitglied der Berliner Akademie und fertigte zudem Medaillen mit dem eigenen Porträt sowie mit Bildnissen seiner Familie an.
In Closter Bergen
Wieland war in den Jahren 1747 und 1748 Schüler am pietistisch geprägten Pädagogium in Kloster Berge, einer ehemaligen Benediktinerabtei an der Elbe unweit von Magdeburg.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann