Brief vom 4. Juli 1749, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 4. Juli 1749

Mein Herr und werthester Freünd.

Ich habe neülich durch Hrn. Geßner einen Brief von Ihnen erhalten und 1 Exempl. der N. Crit. Briefe, welches ich für mich behalten, weil keine andre für Hrn. Ramler, Kleist p. dabey waren. Ich danke Ihnen dafür und will es den andern Freünden zulesen schiken. Wenn diese Briefe sie nicht aus ihrer lethargie erweken, so sind sie verlohren, denn mir hätten sie bald selbst Lust zum Dichten und critisiren gemacht. Weil Ihnen ein weinender Man nicht schlimme Ideen von seinem Charakter giebt, so muß ich Ihnen sagen, daß ich bey Durchlesung der crit. Briefe 2 mal geweint habe und beyde mal darüber, daß sie sagen, sie rüken dem Abend ihres Lebens entgegen. Diese Stellen haben mich um so viel mehr gerühret, weil ich, ich weis selbst nicht wie, mir immer vorgestellt habe, daß wenn ich auch nach 20 Jähriger abwesenheit sie wieder sehen würde, ich einen Mann in seinen besten Jahren, an ihnen finden werde. Sie haben mich zu erst auf die betrübte Gedanken gebracht, daß meine Freünde in der Schweiz ihrer seits auch altwerden, da ich hier an Jahren zunehme. Ich dachte gleich, nach dem ich sie älter gefunden an meinen Waser und stellte mir ihn plözlich, als einen bald 40 Jahrigen Mann vor, da ich ihn bis dahin immer als einen Jüngling betrachtet habe, der an Alter mir gleich ist. Ich werde um so viel mehr eilen meine ersten und ältesten Freünde wieder zu sehen, ehe die Zeit mir ihre Munterkeit entreißt.

Ich habe schon verschiedene Buchführer wegen ihrer Bücher gesprochen und noch keinen gefunden der recht entriren wollen, izo habe ich einen, der mehr, als andre reflexion auf die Sache macht, und mir vor ein paar Tagen versprochen hat in 14 Tagen positive Antwort darüber zu geben. Uzens Gedichte sind gedrukt, aber unglüklicher weise einem Verleger in die Hände gefallen, der sie von dem Buchdruker nicht einlösen kann. Also hat noch niemand ein Exemplar davon. Ich habe Hrn. Gleim von diesem verdrießlichen Umstand Nachricht gegeben, und wir werden sehen, wie wir sie erlösen. Kleists Frühling ist noch nicht unter der Preße, weil Hr. Ramler für gut hält erst alle hiatus daraus zu nehmen. Er thut aber auch mehr. Er verschönert das Werk in der That und hat unter anderm eine ganze Episode dazugemacht, die ziemlich ⟨in⟩ dem stylo autoris ist. Zu dem Pygmalion habe ich einige Zusäze gemacht und werde ihn ⟨in⟩ wenig Tagen unter die Preße geben.

Der Meßias wird immer bekannter hier und Leüte, die sonst kein Deütsch lesen, gewinnen ihn lieb. Gestern war assemblée generale de l’academie des sciences. Es ward eine Pieçe autore rege gelesen sur les moeurs, coutumes & industrie des brandebourgeois p. Es ward auch von der Brandenb. belles lettres gesprochen, man konnte aber keinen autorem citiren als den v. Caniz, der mit dem Titel des Pope des allemans beehret worden. Die deütsche Sprach ward einer großen [→]Barabarey beschuldigt, doch hoffe man, daß sie nach und nach sich beßern würde. Heüte habe ich mit Mr. de Maupertuis davon gesprochen und ihn versichert, daß wir weit beßre Scribenten aufweisen können, als den Caniz, ich werde suchen ihn ein andermal weiter zu führen, und ihm welche zu nennen. Wenn er sie dem König wieder nennen kann, so kommen sie durch den besten weg in des Königs Ohren. –

Das Paquet darin die Poesie der Schwaben ist, ist noch nicht angekommen. Von Hr. Langen weis ich nichts, als daß er zwey verstorbenen Verwandten ein Denkmal aufgerichtet hat, das vermuthlich mit ihren Leibern vermodern wird. Mich verlangt auf die Ankunfft des Hrn. Schultheß.

Ich verharre

ihr ergebenster Dr. Sulzer.

den 4 Heümonats 49.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmern in Zürich.

Vermerke und Zusätze

Siegel.

Stellenkommentar

rüken dem Abend ihres Lebens
Vgl. [J. J. Bodmer, M. Künzli], Neue Critische Briefe, 1749, 55. Brief, S. 389.
Uzens Gedichte sind gedrukt
Uz' Lyrische Gedichte erschienen 1749 im Verlag von Johann Jacob Weitbrecht.
v. Caniz, der mit dem Titel des Pope des allemans
Vgl. Friedrich II. von Preußen, Des Moeurs, des Coutumes, de l'industrie, des progrès de l'esprit humain dans les arts et dans les sciences. In: HAR 1750, S. 395–422. Das Zitat steht auf S. 413.
deütsche Sprach
Ebd. S. 414.
Barabarey
Gemeint ist Barbarei.
ein Denkmal aufgerichtet
S. G. Lange, Denkmal zweyer frühzeitig verlornen einzigen Söhne zur Erleichterung seines Herzens zum wohlverdienten Ruhm den selig Verstorbenen und den Hinterbliebnen zum Trost aufgesetzt, 1749.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann