Brief vom 26. Juli 1749, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 26. Juli 1749

Mein Herr und wehrtester Freund.

Ihr geliebtes vom 4 May habe den 14 Julius und das vom 4 Julius wenig tage darauf empfangen. Ich danke sehr für den Druiden, welchen ich zwar schon gesehen hatte. Die Schrift ist viel besser als der Gesellige, wiewol ich darinn noch zu wenig lebhaftes, artiges und neues entdeke. Keine von allen unsern Wochenschriften hat noch einen Charakter gehabt, als der Jüngling. Denn ich nenne dise allgemeinen Charakter Weltbürger, patriot, Gesellige, Menschenfreund, lieber keine Charakter. Es ist gottlos daß sie das päkgen nicht empfangen haben, darinnen der Misanthrope gelegen. In demselbigen waren ferner Meyers Fabeln, Kinderliebe, Dunciaden, neue Erzählungen, gemißhandelter Opiz, gelehrten Zeitung-Artikel gegen Mosheim, schwäbische Poesie, und endlich fables pour les enfans en manuscript par Muralt. Dises letztere ist irreparable. Dabey lag ein offenherziger Brief von mir. Ich hatte das Pak Hn Schuldheiß beym Dach übergeben, er hat es zu seinen sachen gepaket, und dem Kaufmann von Berlin für sie zugesandt. Sie wissen den Kaufmann, Hr. Schuldheiß sagt mir daß er ihn ihnen genannt habe. Weil dieser Kaufmann die andern sachen des Hn Schuldheiß empfangen so muß er nothwendig auch das Pak, so dabey gelegen empfangen haben. Da er dises geleugnet hat, warum haben sie es nicht Hn Schuldheiß geklagt, der ihnen doch von der Absendung Nachricht gegeben hat? Ich hoffe noch immer, der Kaufmann habe das Pak nur verlegt, und werde es wol seither gefunden haben. Fragen Sie wieder. Hr Schuldheiß wird ihnen auch schreiben. Er findet es gar deutlich in seinem Fuhrbuch.

Und sagen sie, Spener habe ihnen nur ein stük Crit. Briefe zugestellt; es sollten 4 stüke seyn. Ich habe dise 4 stüke dem Hn Hauptmann Geßner für sie ungepakt zugestellt, er hat sie nur in Maculatur gewunden zu seinen Büchern in das Pak an Hn Spener geleget, und diser hat sie hinterhalten. Stuhnd nicht auswendig auf meinem Brief: mit 4 stüken Critischer Briefe. Examinieren sie doch den jungen Hn Geßner darüber: Es ist mir ein Vergnügen daß sie zusätze zum Pigmalion gemacht, ich erkenne wol daß man Zusäze dazu ohne pedanterie machen kann; und daß sie dises können. Sie werden vermuthlich auch die Zugabe an ihren Ort eintragen, die in dem zwanzigsten Critischen Brief stehet. Ich glaube auch der Cimon könnte unter der hand des Hn. Gleims eine artige pieçe werden; wenn sie ihn nur bereden können daß er sich seiner annimmt. Ich thue darauf verzicht. Gilt gleich viel, ob er in prosa, oder in Versen ausgearbeitet werde. In deutschen Hexametern sollte es doch nicht so schwer seyn. Er ist ihr Cimon. Was Doct. Baumgarten zugunst des Messias in die Nachrichten von einer hallischen Bibliothek eingetragen hat, zeiget keine grosse bewegung des herzens. Unser freund der Hr. Heß von Altstätten hat in den zufälligen Gedanken schon entzükter davon geredet. Er ist in den Messias und seinen Poeten sterblich verliebt. Hn pastor Langen Abfall betrübet mich. Ich wuste wol, daß seine Einsichten nicht tief, und sein geschmak nicht gewiß war: Aber ich traute desto mehr seinem Herzen. Was er gutes geschrieben, hat er seinem herzen zu danken. Ich werde die Erdichtung mit welcher er seine Vorrede zu den Freundschaftlichen liedern anfängt, mit keinem worte widerlegen. Doch habe ich nicht anders können, als seinen hiesigen Bekannten die Briefe zeigen, worinnen er mir die freundsch. Lieder todt und lebendig überläßt, und in eine Entzükung geräth, daß ich seine Lieder mit Pyras des Drukes gewürdiget habe. Er hat mir izt einen eiskalten Brief geschrieben. Ich bin unglüklich mit meinen freunden. Die herren von Bern haben vorige woche einen von meinen besten berner Fr. enthauptet. Der ist der Autor der Misodemen und der Messagerie du Pinde. Man giebt ihm eine blutige Conspiration schuld, in welcher der gantze Rath der Stadt Bern nicht bloß verändert, sondern ermordet werden sollte. Henzi hatte ein Sylla werden wollen. Mit ihm sind noch zween Bürger hingerichtet worden. Noch auf einige wartet das Beyl, auf andre proscriptionen. Der profess. König zu Franeker ist zu seinem Glük bannisirt gewesen. Henzi hätte ihn vermuthlich mit in sein Complot gezogen. Er ist wie ein Grieche gestorben, der für die Freiheit fällt. The world is made for Cesar. Wenn Sie bey durchlesung der Critischen Briefe zweymal geweint haben, weil sie darinnen gelesen, daß ihre Freunde alt werden, so werden sie izt noch ein paarmal weinen, da sie hören daß unsre Freunde enthauptet werden. Ohne Zweifel haben sie mein zunehmendes Alter nicht bloß daran bemerket

daß schon das fünfzigste Jahr mir auf den Rüken gesessen,

sondern vielmehr an den Schwachheiten des Inhalts und der Schreibart. Dieses erinnert mich die Schreibsünden zu verlassen, eh sie mich verlassen. Dieses soll mir desto weniger zu schaffen geben, weil izt junge leute sind, die so gut und vil besser schreiben als ich es wünschen kann. Klopstok hat mir etliche vortreffliche Oden gesandt. Wenn er nur so glüklich wäre, als ers verdienet. Er ist indessen nicht unglüklich, ne nunc quidem vivit siliquis & pane secundo. Ich habe einen Artikel von seinem Messias in den Journal helvetique von Neufchatel einrüken lassen, ein andrer soll in die bibliotheque germanique oder raisonnée kommen; mein Absehn war, ihn dem Maupertuis nur von weitem zu erkennen zu geben. Hier und dar hat man versucht, ob der Messias sich französisch übersetzen lasse: aber man hat die arbeit zu schwer befunden. Ich kan die freunde Klopstoks, Gärtner, Rabner, Giseke, nicht loben, daß sie keinen Versuch thun, ihre landsleute aus der Kaltsinnigkeit wegen des Messias aufzuweken. Sie sind zu diesem Werk so still, als ob es ein gewöhnliches Gedicht wäre. Sie sollten der Nation mit einem positiven Urteil vorgegangen seyn; sie sollten sie gestimmt haben.

Ich bin froh daß Uzens Lieder so nahe bey der Geburt sind; und ich hoffe daß Kleists Frühling künftigen Winter vollends aus dem Ey kriechen werde. Vom Messias sind der vierte und der fünfte gesang fertig. Von Gleim hoffe ich nichts, damit ich mich nicht betrogen sehe. Betrieget er mich auch so, so will ich ihm dafür danken. Unsere schwäbische Poesie hat keine sonderlichen Urtheile verursacht, Gottsched schweigt in seinem Büchersaal. Der secretar [→]Möser in Oßnabrük will einen Poëma aus den Mittleren Zeiten publiciren, welches unsern Poeten bey weitem nicht gleich kömmt. Er sagt in dem plane nicht ein wort von der beschaffenheit seines Codicis; und in seinen Exempeln sind sehr verdächtige lesarten. Man hat hier den Asiatique tolerant; man schreibt ihn dem König zu. Er ist dieses grossen Autors nicht unwürdig, wiewol ich zweifle, daß der König ihn geschrieben habe. Wenn sie dem Maupertuis die Poesie der Deutschen auf ihrem gipfel zeigen wollen, so zeigen sie ihm nichts als den Messias. Ich habe Hn. Gleim ein Exemplar der schwäbischen Poesie durch Einschluß an Hn Lange zugesandt, und Lange schreibt, daß er ihm das werk zugestellt habe.

Hier haben wir das stük des Büchersaals noch nicht gesehen, in welchem des Königs Memoires pour l'hist. des Brand. angegriffen seyn sollen. Der selige Henzi hat eine tragödie verfertiget Grisler où l'helvetie delivrée. Ich habe ein paar fragmenta davon; worinn er stark wider den despotismus loszieht. Er schrieb mir vom 10 Jun. welches sein letzter Brief an mich war, daß er in 8–14 Tagen nach Paris verreisen wollte, er hoffete daß der Herzog von Modena das Regiment wider aufrichten würde, in welchem er eine Compagnie hat. Hr. von Hag...n hat mir sein gedicht auf die Freundschaft geschenket. Es ist propius sermoni geschrieben. Ich kan bald nichts mehr lesen, was nicht einen Schnitt von Klopstok hat. Ich stehe in procinctu mit dem Doctor Hirzel in das Land der Faunen von Appenzell zu gehen. Ich glaube der doctor werde bey ihnen in seinem Element seyn. Ich hoffe der Herr Schuldheiß werde in Deutschland nützliche bekanntschaften machen. Er hat einen denkenden Kopf, und ein freundschaftliches Herz.

Ein geschikter Kunstmahler allhier, nahmens Füßli hat ein project publicirt von pourtraits in schwarzer Kunst, er macht mit einem duzend Zürcher Gelahrten den Anfang. Sie mein Freund sind einer der zwölfe. Ich weis nicht, wie man mich auch zu diesen 12 angeordnet hat. Aber woher nehme ich alles dises geplauder? Zu einer Zeit da ich bald zu pferd steigen will. Warum schreibe ich Ihnen nicht lieber drey Zeilen ohne solœcismes als drey seiten gewäsche. Ohne Zweifel, weil mir die Zeit zu kurz war, kurtz zu schreiben, und weil ich zu familiar mit ihnen bin.

Ich verbleibe mit hochachtung, freundschaft und liebe

Ihr ergebenster Dr.
Bodmer

den 26 Julius 1749

Einige moderate nachrichten geben, daß die hauptabsicht der conspiration allein gewesen die Regierung popularer zu machen, und die alten Rechte der Bürgerschaft wider hervor zu suchen. Das Gerücht gehet, der Michel, ein Exulant von Geneve, sonst ein Mathematicus, der die Wettergläser zu einer grösten vollkommenheit gebracht hat, habe die Conspiration verrathen, nachdem er sich ziemlich tief mit ihr eingelassen. Er lebte zu Bern als ein staatsgefangener.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »26. Jul. 49«.

Eigenhändige Korrekturen

dem Kaufmann von Berlin
an den Buchhändler Spen dem Kaufmann von Berlin
Hn Hauptmann Geßner
Hn ⌈Hauptmann⌉ Geßner
doch den jungen Hn Geßner
doch ⌈den jungen⌉ Hn Geßner
die freundsch. Lieder todt
die freundsch. BriefeLieder⌉ todt
mir izt einen eiskalten Brief
mir ⌈izt⌉ einen eiskalten Brief
zu seinem Glük
zu rechter Zeit seinem Glük
sie ihm nichts als
sie ⌈ihm⌉ nichts als

Stellenkommentar

Hn Hauptmann Geßner
Der Verleger Hans Conrad Gessner.
mir izt einen eiskalten Brief
Langes Brief aus Laublingen vom 20. April 1749 (ZB, Ms Bodmer 4.2). Darin heißt es u. a.: »Einige Ausdrüke, dero geehrten Schreibens geben mir zu verstehen, oder doch zu muthmaßen, als ob man Ihnen hinterbracht habe, ich könnte den Tadel meiner Arbeit nicht leiden. Ich will Ihnen davon meine Meinung sagen. 1.) Ich sehe die Critick gerne, aber sie muß gegründet seyn. 2.) Ich finde viel Erinnerungen, die einander wider sprechen.«
einen von meinen besten berner Fr. enthauptet
Samuel Henzi wurde am 17. Juli 1749 in Bern hingerichtet. Zur sogenannten Henzi-Verschwörung und deren spätere literarische Bearbeitungen, u. a. bei Lessing, vgl. Beise Geschichte, Politik und das Volk im Drama des 16. bis 18. Jahrhunderts 2010, 224–241.
noch zween Bürger
Der Stadtleutnant Emanuel Fueter und der Handelsmann Nikolaus Wernier wurden gemeinsam mit Henzi als Anstifter der Verschwörung, die in Bern auch unter dem Begriff »Burgerlärm« bekannt war, hingerichtet.
daß schon das fünfzigste Jahr
Vers im 55. Brief von Bodmers Neuen Critischen Briefen, 1749, S. 390.
vortreffliche Oden gesandt
Klopstocks Brief an Bodmer, 12. April –17. Mai –7. Juni 1749. Darin: »Ich schicke Ihnen hier eine Ode, die noch Niemand, die weder Fanny noch ihr Bruder gesehen hat.« (Klopstock Briefe 1979, Bd. 1, S. 51).
ne nunc quidem vivit siliquis & pane secundo
Hor. epist. II, 1, 123. Übers.: »er lebt von Hülsenfrüchten und minderwertigem Brot« (Horaz, Buch 2 der Briefe, 2018, S. 589).
Möser [...] will einen Poema
J. Möser, Nachricht von der Ausgabe eines altdeutschen Gedichtes. In: Neuer Büchersaal, 1749, St. 8, S. 365–376. Vgl. zu Justus Mösers Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur sowie seinem (gescheiterten) Subskriptions- und Editionsplan von 1749: Beckers Justus Möser und die Wiederentdeckung der mittelalterlichen deutschen Literatur 1989, S. 100–102.
Asiatique tolerant
L'Asiatique tolérant. Traité à l'usage de Zéokinizul Roi des Kofirans, surnommé le Chéri. Ouvrage traduit de l'Arabe du Voïageur Bekrinoll. Par Mr. de *****. Der Verfasser war Laurent Angliviel de La Beaumelle.
Lange schreibt
Langes Brief vom 20. April 1747: »Ich habe das Stük von der schwäbischen Poesie [...] unserm Gleim [...] zugesendet.« (ZB, Ms Bodmer 4.2).
stük des Büchersaals
Neuer Büchersaal, 1749, Bd. 8, St. 1, S. 32–41.
sein letzter Brief an mich
Samuel Henzis letzter Brief an Bodmer vom 10. Juni 1749 ist abgedr. in: Lessing Samuel Henzi 2000, S. 78 f.
pourtraits in schwarzer Kunst
Der Porträtmaler und Kunstschriftsteller Johann Caspar Füssli hielt sich nach Studienreisen seit 1740 in Zürich auf, wo er Kontakt zu Dichtern und Gelehrten pflegte, von denen er zahlreiche porträtierte. Das Porträt Bodmers (Tafel 2) malte Füssli um 1748/1749. Bei der Porträtserie handelt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Kupferstecher Johann Jakob Haid. Bodmers in Kupfer gestochenes Porträt (Abb. 2) wurde einer Anzeige in den Zürcher Donnstags=Nachrichten vom 4. Mai 1752 zufolge für »4 Kreutzer« zum Verkauf angeboten.
Michel, ein Exulant von Geneve
Vgl. zu dem Genfer Physiker, Festungsbauer, Thermometriker und Kartografen Micheli du Crest, der das erste wissenschaftliche Gebirgspanorama der Alpen schuf und ab 1746 bis zu seinem Lebensende als politischer Gefangener u. a. in der Festung Aarburg inhaftiert war: Meier Die Einsamkeit des Staatsgefangenen Micheli du Crest 1999.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann