Brief vom 22. Dezember 1776, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 22. Dezember 1776

Zürch den 22sten december 1776.

Mein liebster Sulzer.

Breitinger, der gesellschafter meines lebens, der Mitdenker meiner Gedanken ist von mir [→]in die ewigen Wohnungen geschieden. Er starb an einer apoplexie ohne daß er die bitterkeit des Todes geschmeket habe, munter und geschäftig bis an dieselbe stunde. Nur drey tage zuvor war er bey mir in dem Berge, wir beyde aufgewekt, ohne Ahnungen daß wir uns das lezte mähl sähen. Er hatte noch die Freude, Semlers über die apocalypsin zu empfangen. Er hatte aber auch das mißvergnügen die unflätige brochure Allerley betitelt zu sehen; die sünde eines Energumene, von unsern Jünglingen. Steinbrüchel hat Breitingers Canonicat, er ist aber selbst von unsicherer Complexion. Es giebt ἐπιχαιρεκακους die triumphieren. Die Aussichten sind in der that für die barbarey und den Fanatisme.

Lavater hat selbst bey den Funfzig und bey den Zweyhundert die majorität; wiewol aus verschiedenen ursachen. Für ihn ist auch unser grand doien.

Nun leb ich en heremite; nicht daß es mir an gesellschaftern fehle; aber ich habe niemanden, vor dem ich die Winkel meines Herzens entfalten dürfte, niemanden der mit mir gelebt, und mit mir sechzig jahre gedacht hat. Altersbeschwerden kommen, doch allmählich und erträglich. Meine Frau theilt immer ihr leben mit mir.

Schreiben ist mir zur Natur und beynahe zur Nothwendigkeit geworden. Ein Wunder, wenn der Tod mich nicht trift die Hand an der feder, mitten in einem Drama oder Epopöchen. [→]Multa et præclara minatur senex propediem octogenarius[→]; aber, erschreken Sie nicht, mein Liebster, minatur.

Hr. Capitain Landolt hat mir angenehme Nachrichten von Ihnen gebracht. Ich werde nach meinem Ende nicht eher vergessen werden, bis auch Sulzer zu Breitingern, Künzli, Hessen, Wyssen gegangen seyn wird. Waser ißt und trinkt noch.

Ich umarme Sie. Lebend und nach dem tode

der Ihrige,
Bodmer

Wenn ich den frühling erlebe, wie werd ich einsam an dem gestade der limmat gehen, und Breitinger, Zimmermann rufen! sie meine stimme nicht hörend.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

A Monsieur Soulzer professeur et de l'academie royale a Berlin

Vermerke und Zusätze

Siegelreste.

Eigenhändige Korrekturen

propediem octogenarius;
propediem septuagenariusoctogenarius;

Stellenkommentar

Breitinger [...] in die ewigen Wohnungen
Johann Jakob Breitinger war am 14. Dezember 1776 nach einem Schlaganfall in Zürich gestorben.
Semlers über die apocalypsin zu empfangen
Siehe Brief Johann Salomo Semlers, mit welchem er Breitinger seine Neue Untersuchungen über Apocalypsin übersandte (ZB, Ms Z II 3016).
unflätige brochure Allerley betitelt
[Christoph Kaufmann], Allerley gesammelt aus Reden und Handschriften grosser und kleiner Männer. Darin geht Kaufmann, der im Sommer 1777 auf einer Reise durch Preußen auch mit Sulzer in Berlin zusammentraf, in einer Miszelle auf Bodmer ein und nennt ihn »einen der originellsten ausgezeichnetsten, liebenswürdigsten Menschen ... den Deutschlands Knaben anbrunzen«. (S. 105). Breitinger dürfte sich wohl kurz vor seinem Tod vor allem an dem Abschnitt »Theologie, Religion, Bibel, Christenthum« gestört haben.
ἐπιχαιρεκακους
Übers.: »Schadenfreudige«.
grand doien
Johann Conrad Heidegger, Bürgermeister von Zürich.
Multa et præclara
Übers.: »Der bald 80-jährige Greis wird getrieben, auch Vieles und Großes zu tun.«
Hr. Capitain Landolt hat mir angenehme Nachrichten
Der schweizerische Offizier, Maler und spätere Landvogt von Greifensee, Salomon Landolt, reiste 1776 nach Berlin und Potsdam, wo er auch Friedrich II. traf und Einblicke ins preußische Militär erhielt. Im November 1776 war Landolt nach Zürich zurückgekehrt. Vgl. Hess Salomon Landolt 1820, S. 55–60. Über Landolts Zusammentreffen mit Sulzer konnte nichts ermittelt werden.
Zimmermann
Johann Jakob Zimmermann, der bereits 1756 gestorben war. Vgl. Brief letter-bs-1757-01-08.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann