Brief vom 1. September 1771, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 1. September 1771

Mein liebster theurester Freund.

Es mag demuth, selbsterkenntniß oder furcht vor ihrem Critischen Scharfsinn seyn, ich habe diesmal die Kühnheit verlohren, Ihnen, wie ich es sonst gewohnt war, etwas Manuscriptes von den geburten meiner alternden muse zu zeigen. Die grazien im kleinen sind schon vor etlichen jahren entstanden, die Journalisten haben sie mir in die Rechnung gesezet, wiewol sie den beweis davon nicht legaliter führen können. Ich selbst hab nur kürzlich Exemplare ⟨aufjagen⟩ können, und das stük dünkt mich fein genug, daß ich Sie, mein Liebster, bitten darf, durch ihre Emissaires das ding in dasigen gegenden, ohne daß sie sich oder mich compromitieren, in ora virorum zu bringen.

Ich sehe mit warmem Verlangen den übrigen bogen zum ersten band des Dictionaire entgegen. Ich bin nidergeschlagen wenn ihr Nefe, Hr. Sulzer sie mir nicht bringt, p.

Ich habe gerad izt auf meinem Pult L’an deux mille quatre cent quar: quatre. Gewiß sind in diesem werke tausend begriffe, wahrheiten, bemerkungen, klagen, die man in eigenem sinn nefandas nennen kann, die doch lange in Ihrem Kopf gewesen sind, wie sie leider auch von mir haben gedacht werden müssen, wenn ich den beobachtungsgeist nicht gänzlich unterdrüken wollen. Wir können uns vieler anecdoten unserer Herzen und unsrer denkungsart halber auf dieses werk beziehen, und so einander der gefahr überheben, wenn wir sie der öfentlichen Post anvertraueten.

Der grosse Haller, den man in Bern nur den Hrn. Salzdirector nennet, und nicht besser kennt, hat einen politischen Telemach unter der Presse, dem ich mit noch wärmerer begierde als der Messiade entgegensehe. Mein Verlangen nach diser ist ganz stumpf geworden.

Sagen sie mir, ist der Verfasser Sur l’amerique ein Vir bonæ fidei? Ich verstehe nur fidem historicam.

Die Yncas von Marmontel sind auch ein Werk, von welchem ich hoffe daß es mir ein politisches labsal seyn werde. Aber Basedows Agathocrator! Ich kann mir nicht befehlen, daß ich Basedow nicht für einen verdrießlichen Schwazer ansehe. – Und nicht mir befehlen daß ich den Jude Moses Mendelsohn für böse ansehe, seitdem ich seinen Briefwechsel mit Abbten gelesen habe; welcher Triumpf über kleine sehr oft zweydeutige, Critische siege! Welche decisionen über Wolf, Plato, Leibnizen! An Geschmak ist der Mensch gewiß arm, dem Hamans socratische Denkwürdigkeiten, Wolken, Kreuzzüge einen Augenblik haben schmeken können; und Mendelsohne haben sie geschmeket.

Sie haben doch auch Denis' poesien gelesen. Er hat in seinem Geist etwas Klopstokisches. Sein Ossian dünkt mich doch hart und steif im ausdruk und im Verse. Man hat die Gütigkeit ihm viel zu verzeihen. Und er verdient es mit den kleinen schmeicheleyen, womit er selbst gegen Klozen und Riedel freygebig ist. Hierinn lob ich ihn nicht. Ich kan diese Niederträchtigkeit nicht leiden.

Wenn Jacobi glaubt daß die Grazien im Kleinen von mir seyn, so hat er sich an mir gerächt, daß er mich zu seinen Handlangern bey den pränumerationen gestellt hat. Ich posaune die tändeleyen diser alten und jungen Knaben nicht. Dr. Hirzel mag es thun, der über die Briefe von Gleim und Jacobi in Ecstase gekommen ist, wiewol er sich izt deßwegen schämt. Lavater mag sie posaunen, der Basedows elementarbuch in mehr als hundert Familien hineingeschwazt hat.

Es ist traurig daß der Lieblingsdichter der Nation keinen Verleger ohne subscription haben kann. Es wird eben wol ein Geldklobe sein sollen.

Unser Breitinger arbeitet solidere Werke als ich und Gleim, er hat einem Tochterman von 26 jahren die fette präbende Birmensdorf gewonnen.

Unsere schulenverbesserungen, unsere Ämterverbesserungen gehen so langsam wie Klopstoks Messiade. Ich habe die Erwartungen von dieser und jenen beynahe aufgegeben. Es schleichen bey uns schwäbische, bayerische und östereichische Maximen ein, die mir Herzwehen verursachen. Wir wollen Ramsen die rustical und dominical steuren auflegen, die wir erstlich gegen Östreich bestritten und hernach um unser Halbes Ærarium ihm abgekauft haben.

Noch ein Blättchen.

Ich habe etliche traurige, schmerzhafte tage gehabt. Eine Anverwandtin von dem besten, ⟨reichsten⟩ Charakter, die mir darum sehr lieb war, ward seit einem Kindbette von einer Verwirrung und Bangigkeit der lebensgeister überfallen, welche ihr alle freiheit der Vernunft und das bewußtseyn ihrer selbst benahmen. Wiewol sie mit den äußersten kräften, so ihr die guten Intervalle übrig liessen, dagegen kämpfte, so ward sie doch überwältiget, und sprang in dem access in die Limmat, wo sie ihren tod fand. Man hat die oberkeitliche Härte gehabt, sie ohne das Ceremonial unserer Kirchgänge vor der Stadt bey Nacht durch Colporteurs begraben zu lassen. Der Pöbel hat sie in das feuer der Hölle verdammt. Man hat sich nicht in den sinn nehmen dürfen zu versuchen ob man sie durch chirurgische Operationen wider ins leben ⟨erwinnen⟩ und ihr blut flüssig machen könnte. Alle woldenkenden wünschten mit mir nach dem tode so selig zu leben wie sie izt lebet.

Unser Diacon Waser hat das Gesundwasser zu Riepoldsau getrunken und gute Würkungen davon gespürt. Noch mehr aber von der vernünftigen gesellschaft, die bey ihm war. Es waren der professor Steinbrüchel, der Jkr. Unterschreiber Wyss der izt zum Landvogt von Kyburg erwählt ist, der Doctor Locher p. Dise Herrn haben täglich gelegenheit gehabt die bemerkung zu machen, daß er von seiner gekischen Frauen zum siebenschläfer, zum Faulenzer und halben Geken verzärtelt worden. Doch hat er seither wieder am sonntag abend gepredigt, und keine sottises, wie er gefürchtet hatte daß ihm entrinnen würden.

Ich schike unserm Wegelin auch einige Grazien im Kleinen mit derselben Bitte, daß er sie durch die dritte Hand ausstreue. Hat unser Müller nicht auch correspondenten denen er sie zufertigen kann? Wir haben nicht viel Vergnügen von seiner Versezung nach Berlin. Und noch weniger Nuzen hat der Geschmak von seinen bemühungen. Doch es sind nur nicht bemühungen.

Haben sie die Güte Hn Wegelin mein manuscript von Adelbert von Gleichen zu lesen zu geben, damit ich es nicht ganz umsonst und für die Mäuse geschrieben habe.

Wenn Hr. Sulzer in das Land kömmt so hoffe ich viel angenehme anecdoten von ihm zu vernehmen. Ich höre, daß er die schöne, gütige Braut Hn Grafen nach Dresden begleiten, und dann in die Schweiz kommen werde.

Ich bin unveränderlich

Ihr
Bo.

den 1. Sept. 1771

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Eigenhändige Korrekturen

denkungsart halber auf
denkungsart ⌈halber⌉ auf

Stellenkommentar

auf meinem Pult
[L. S. Mercier], L'an deux mille quatre cent quarante. Rêve s'il en fût jamais, 1771. Die deutsche Übersetzung von Christian Felix Weiße erschien als Das Jahr 2440. Der Traum aller Träume ebenfalls 1771.
nefandas
Von lat. »nefandus«. Übers.: »unaussprechlich, abscheulich«.
einen politischen Telemach unter der Presse
A. v. Haller, Usong. Eine Morgenländische Geschichte, 1771.
Verfasser Sur l’amerique
Antoine Joseph Pernety. Vgl. Brief letter-bs-1770-12-00.html.
Vir bonæ fidei
Übers.: »gutgläubiger Mann«.
Yncas von Marmontel
J. F. Marmontel, Les Incas ou la destruction de l'empire du Pérou, 1777.
Basedows Agathocrator
Basedows Agathokrator: oder von Erziehung künftiger Regenten erschien 1771 in Leipzig bei Caspar Fritsch.
seinen Briefwechsel mit Abbten
Abbts Briefwechsel mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai erschien 1771 im Rahmen der von Nicolai herausgebenen Vermischten Werke Abbts als Dritter Theil welcher einen Theil seiner freudschaftlichen Correspondenz enthält. Zu Mendelssohn und Abbt siehe Lorenz Skeptizismus und natürliche Religion 1994.
Mensch gewiß arm
Anspielung auf die seit 1756 bestehende freundschaftliche Verbindung zwischen Mendelssohn und Hamann, die 1782 in einer Kontroverse über Politik und Religion mündete. Der junge Mendelssohn hatte Hamanns Sokratische Denkwürdigkeiten im 113. Literaturbrief rezensiert. Vgl. Gründer Hamann und Mendelssohn 1989.
Denis' poesien
Der österreichische Priester, Dichter, Übersetzer und Zoologe Michael Denis, der die Gedichte Ossians aus dem Englischen übersetzt hatte. Bodmer bezieht sich hier vermutlich auf Denis' eigene Dichtungen, die als Die Lieder Sineds des Barden erschienen.
er selbst gegen Klozen
Klotz hatte Denis' Übersetzung der Gedichte Ossians lobend rezensiert in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, St. 8, 1768, S. 685–707.
Wenn Jacobi glaubt daß die Grazien im Kleinen von mir seyn
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1770-12-00.html.
einem Tochterman
Hans Kaspar Gessner (1744–1796), der mit Breitingers Tochter Esther verheiratet war.
wollen Ramsen die rustical und dominical steuren
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1769-03-06.html.
Eine Anverwandtin
Nicht ermittelt.
Waser hat das Gesundwasser zu Riepoldsau getrunken
Im heutigen Kurort Rippoldsau im Schwarzwald befanden sich schon im 18. Jahrhundert Heilquellen und eine Molkenkuranlage. Die Informationen hatte Bodmer wohl aus einem Brief Wasers, der allerdings nicht ermittelt werden konnte.
Doctor Locher
Zu dem Arzt, Naturforscher und Botaniker Johann Georg Locher vgl. H. C. Hirzel, Biographische Nachrichten von Herrn Doktor Locher, 1787.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann