Brief vom 29. Juli 1771, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 29. Juli 1771

Ich danke Ihnen, mein Liebster, daß sie das Mädchen von sanftem gemüth, das kind der liebe, Ihrem Mitbürger gegeben haben. Freilich dank ich Ihnen auch daß Sie Es einem Jüngling von gerade vor sich sehenden Verstande versprochen. Aber Sie haben durch diese Wahl Winterthur geehret und dise stadt wird mir immer lieb seyn, weil sie drey Sulzer und Künzli hervorgebracht hat. Ich liebe sie auch nach der übelthat, die sie an dem braven Schuldheißen gethan hat; und ich fürchte zugleich für sie. Man sagt zwar daß der neue schuldheiß schwazen könne. Sein Namser kann wenigstens die sprache der seyn wollenden patrioten; überhaupt reden die jungen Herren von W: dieselbe. Dieses Übel hat das gute gehabt, daß unser Freund izt mehr musse hat für sich zu leben, und da ihn die Etiquette nicht mehr hindert, zu seinen Freunden in Zürch zu kommen. Unser Hr. bürgerm. Heid...r hat schon die veralterte Vertraulichkeit mit ihm wieder erneuert. Ich weis nicht wie es kömmt, daß unser [→]Waser durch seine römischen und griechischen maximen die jungen patriotischen gemüther so verderbt haben soll. Eine beschuldigung, die man etwan auch mir gemachet hat! Der gute, liebe mann! Es siehet in seinem gemüthe so dunkel wie die Nacht, und die Hoffnung daß die munterkeit wieder in sein herz komme, ist verschwunden.

Die Nachlässigkeit ist unverantwortlich, daß ich die Folge Ihres Werkes durch die Meßleute nicht bekommen habe. Aber das sind wir von den Verlegern gewohnt. Ich hoffe von der Michaelismesse die übrigen bogen zu erhalten die den ersten Band ausmachen; Ihre Arbeit muß die deutschen zu männern machen, oder sie bleiben ewig Kinder. Wie hat nicht Alexis und Elise gekindert! Der gute Anakreon hat das ding Dr. Hirzeln, Geßner, Steinbrücheln und mir geschenkt. Wollte Gott daß Wieland nur kinderte! Man sagt Bahrd, Riedel und Schmied seyn von dem Hn Administrator fortgeschafft worden. Wieland hat den Schuz des Hrn. La Roche, der bey dem Churfürsten von Trier lebet. Ich halte Schmied für den Verfasser des Briefes, den Gottsched aus den Elysäischen Feldern an mich geschrieben hat. Der Tod hat ihn nicht geistreicher gemachet. Es sind starke anzeigen, daß Made. La Roche den Roman der Sternheim gemachet habe. Die Sternheim sollte mehr umstände gemachet haben, eh sie mit dem falschen mann weggelaufen ist.

Diderot glaubt, daß er seinen Ruhm mit Geßners Nahmen unterstüzen müsse. Er hat Geßnern französische Idyllen geschikt, daß er sie in deutsch übersezt unter die Geßnerischen herausgebe. Denn Gessner wird bald neue Idyllen druken lassen, die noch niedlicher sind als die vorigen; und er wird sie mit Vignetten ausschmüken, die man für Antike nehmen kann. Er hat in den Idyllen und den Zeichnungen sich selbst übertroffen. Die Clemens und die La Beaumelle werden in Frankreichfurchtbar⟩. Die De l’isle, die Dorats, die St. Lambert fallen und Boileau kömmt wieder empor.

Unser Lavater hat einen panegyricum auf den Antistes Breitinger geschrieben, der sein panegyricus ist. Er hat auch den Rheinfall in Hexametern geschrieben, den er für einen grossen Gedanken Gottes hält, und sich auf Klopstok beruft. Er glaubt daß ihn zu zäumen die Allmacht erfodert werde, die Kometen im Zaume hält. Und er siehet ihn für ein Werk des Richters an. Ich wollte daß er kleiner von ihm und grösser von Gott gedacht hätte. Unser Doctor Hirzel hat Gottes würdiger gesagt:

Als es der Herr gebot, folgt schnell der wilde Taminbach,
Grub sich schnell ein tiefes bett,
Unter den Solen von zwey gebürgen, die hier sich berühren,
Rollt die Flut sich donnernd fort;
Wälzt sie Hügel von Felsen; die wogen gruben zur seite
Wölbend eine Wand empor.
Nebenhin hat die Kunst ein brett an den felsen gehänget,
Unter dem der Bach aufschäumet.
Hoch hängt an dem gewölbe das zarte Haar von den Wurzeln
Hoher Lerchentannen her;
Diese beschatten den Fuß der Eisbehelmten Kalanda.
Hier im finstern sah ich Gott.
Ihn den Erschaffer der Welt, den Richter; ich sah auch den Vater;
Offenbar den Schöpfer hier
Wo vorm Auge der innere Bau des Erdballs enthüllt liegt,
Wo der Bach lautdonnernd ruft:
Fall auf die Knie, o Mensch, hier wohnt der Richter; geh, frage,
Um Bericht das weite Thal.
****
Doch auch Vater ist Gott, der Freund der Menschen, voll Liebe,
Lispelnd sagt es dir der Quell,
Welcher der Seite des felsen entspringt, von Gesundheit u. Heil fließt;
Aus ihm trank ich neue Kraft.
Rein wie der Aether ist er, er durchfährt mit der lebenden Wärme
Der Gefässe feinsten Stoff.

Der doctor hat den Einfall, die potentaten könnten die beständigen Truppen zugleich zum Akerbau brauchen. Er glaubt, er habe ihn erfunden, mich dünkt doch daß ich ihn schon in einem Journal gelesen habe. Wir fangen an, uns von dem brodmangel zu erholen. Es ist wahrscheinlich daß die sperrung bald wieder aufgehoben wird; der schwäbische Kreis sieht, daß er unser Geld nicht entreichen kann, und daß wir immer mehr mittel ausfinden, uns von den landesprodukten zu ernähren. Einige die in Schwaben behaupteten, die Schweiz sey für Schwaben ein nagender Wurm, disen Ausdruk braucheten sie, sehen ein, daß die maxime die Schweiz aus dem Korncommerce auszuschliessen, sie betrogen hat.

Die Rhanen in der Farbe haben die bankerutte widerholet, welche sie vor zwanzig jahren mit Klopstoken gemachet haben. Doch – Kl. kann und muß nicht eines Verbrechens verdächtig seyn. Die Geßner und Hirzel und Steinbrüchel hier sehen nicht alle das Übel, das Gleim durch die Bekanntmachung der Briefe, an Spalding gethan hat. Einige glauben, man dürfte dergleichen briefe drey tage vor seinem Ende ohne gewissensbisse schreiben. Aber dise Herren sind auch nicht Spaldinge.

Ich hoffe Hr. Spalding weiß izt daß nicht ich den Crito gemachet habe; ich leugne darum nicht, daß ich die Elegie im Krito gemachet.

Uzens Siegesgott der Liebe halte ich immer für ein amadisisches ding, und seine bemühungen sich der riesenmässigen schreibart zu wiedersezen hat in meinem sinne nichts ehrwürdiges.

Ihr gehör mag wol recht haben, daß der vers in meinem Adelbert nicht hexametrisch und der vortrag nicht episch genug seyn. Es sind viele spondäische Chutes des Hexameters, und eine Menge dactyle wie: Kleeblatt der / Adelbert, / Unbekannt, – und andere Härtigkeiten, die ich nicht anders entschuldigen kann, als mit Klopstoks ansehn; allein ich sollte gewußt haben, daß mir nicht so viel wie ihm erlaubt ist; denn Kl. kann und muß keines fehlers schuldig seyn. Von dem Vortrag muß ich bekennen, daß ich geglaubt habe, die Materie vertrage keinen höhern Ton. Adelbert ist nicht Ulysses und doch hab ich seine sprache nicht schwächer gemacht, als sie in der Odyssee ist. Aber in der vorstellung liegt vermuthlich eine Domestichezza, die in unsern Zeiten anstössig ist. Ich sollte den Charakter des schwäbischen Zeitalters nicht so genau ausgedrükt haben. Wenn Sie glauben, daß das stük der Mühe wehrt sey umgearbeitet zu werden, so schiken sie mirs zurük. Ich will zum wenigsten dem Vers mehr Klang geben.

Man hat dem ehrlichen Mann, der die schiffe gegen den strohm will gehen machen hier schon gesagt daß seine Erfindung sich in der Ausübung nicht mit vortheil werde anbringen lassen; es hat ihn doch gefreut, daß Sie die sache nicht für unmöglich erklärten. Indessen ist es sein starker pfand. Er hat sein schiff würklich unter dem ⟨schlössel⟩ in einer grossen Kammer, und wird es bald in die Limmat stechen lassen.

Unsere Helveten von Schinznach sind diesen sommer in so kleiner Anzahl versammelt gewesen, daß sie nur keine Session gehalten haben. Ich hoffe, Sie werden uns dieses jahr keine non acta für acta geben. Sie haben lange genug gefodert daß wir ihre Symposia für Verhandlungen nehmen sollen.

Ich umarme sie von ganzem Herzen.

Ich würde ihnen nicht so unerhebliches Zeug und so nachlässig schreiben, wenn ich die gelegenheit nicht hätte nuzen wollen.

Ihr ergebenster
Bo.

den 29. Julius 1771

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Anschrift

pour Monsieur Soulzer

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers auf der Umschlagseite: »29 Jul. 71.« – Siegelreste.

Eigenhändige Korrekturen

jungen patriotischen gemüther so verderbt
jungen ⌈patriotischen⌉ gemüther ⌈so⌉ verderbt
Wälzt sie Hügel
Wälzt hiersie⌉ Hügel

Stellenkommentar

übelthat, die sie an dem braven Schuldheißen gethan
Johannes Sulzer war von allen Ämtern zurückgetreten, nachdem ein Gegenkandidat für das Schultheißenamt vorgeschlagen worden war. Vgl. Denzler Die Sulzer von Winterthur 1933, S. 96–98. – Troll (Hrsg.) Geschichte der Stadt Winterthur 1845, Bd. 5, S. 103–105.
neue schuldheiß
Der neue Schultheiß war Elias Bidermann und sein »Namser«, also der, der ihn vorgeschlagen hatte, Heinrich Bidermann.
Waser [...] verderbt haben soll
Nicht ermittelt.
Alexis und Elise
Gleims (»der gute Anakreon«) 1771 erschienenes Alexis und Elise. Drey Gesänge.
Schmied
Johann Christoph Schmidt.
von dem Hn Administrator fortgeschafft
Vermutlich Ernst Wolfgang Behrisch, Prinzenerzieher und Administrator im Fürstentum Anhalt-Dessau.
Briefes, den Gottsched aus den Elysäischen Feldern
[W. J. C. G. Casparson], Johann Christoph Gottsched, an Herrn Johann Jacob Bodmer in Zürch, 1770. Der fingierte Brief ist mit »aus den Elysäischen Feldern« datiert.
Made. La Roche den Roman der Sternheim gemachet
Der von Sophie von La Roche verfasste Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim wurde 1771 anonym unter der Herausgeberschaft von Christoph Martin Wieland im Verlag Weidmanns Erben und Reich veröffentlicht. Vgl. Becker-Cantarino La Roche als professionelle Schriftstellerin 2008, S. 53–57, S. 87–97.
seinen Ruhm mit Geßners Nahmen
1772 erschienen Moralische Erzæhlungen und Idyllen von Diderot und Geßner. Zu Diderot und Geßner siehe Ohne Autor Gessner im Umkreis der Encyclopédie 2006, S. 259–376.
mit Vignetten ausschmüken
In der Ausgabe der Moralischen Erzæhlungen und Idyllen findet sich nur eine Titelvignette. Gemeint sind hier die ganzseitigen, eigenhändigen Radierungen in der französischen Quart bzw- Prachtausgabe der Contes moraux et nouvelles idylles von 1773, die Geßner gestaltet hatte.
De l’isle, die Dorats, die St. Lambert
Jacques Delille, Claude Joseph Dorat und Jean-François de Saint-Lambert.
panegyricum auf den Antistes Breitinger
Lavaters Historische Lobrede auf Johann Jacob Breitinger, ehmaligen Vorsteher der Kirche zu Zürich, 1771, war dem im 17. Jahrhundert in Zürich wirkenden Theologen Johann Jakob Breitinger (1575–1645) gewidmet. In der SBB befindet sich heute noch das Exemplar der Lobrede (Sign. 19 ZZ 5972), das Lavater Sulzer mit einer persönlichen Widmung übersandt hatte.
den Rheinfall in Hexametern
J. C. Lavater, Der Rheinfall bey Schafhausen – unten am Schlosse Laufen nach der Natur. Den 1. Julius 1771. Sulzer war vor allem von der Illustration des Einzeldruckes angetan, wie ein Schreiben an Zimmermann vom 13. März 1772 zeigt: »Lavaters Rheinfall ist sehr schön, die Zeichnung nämlich. Auch der Einfall, dergleichen Zeichnungen als Vehicula zu größern Gedanken zu gebrauchen, ist völlig in meinem System wie Sie aus dem Artikel über die Schönen Künste sehen werden. Aber es ist meinem System zuwider, in der Natur den zürnenden Richter zu finden, wo er nicht ist.« (LBH, Ms XLII 1933 A II 93, 34). Lavaters Gedicht wurde auch aufgenommen und publiziert in: Ders., Poesieen, 1781, Bd. 1, S. 146 f.
Hirzel hat Gottes würdiger gesagt
Verse aus Hans Caspar Hirzels Gedicht Auf das Pfefferbad, 1771. Publiziert in: J. Bürkli (Hg.), Gedichte über die Schweiz und über die Schweizer, 1793, Bd. 1, S. 232–234.
in einem Journal gelesen
Nicht ermittelt.
brodmangel
Vgl. Brief letter-bs-1771-02-16.html.
Rhanen in der Farbe haben die bankerutte widerholet
Das Seidenfärberei-Geschäft war nach Hartmann Rahns Rückkehr aus Norddeutschland nach Zürich zusammengebrochen. Rahn verdiente fortan den Lebensunterhalt für sich und seine Familie mit Sprachunterricht und Übersetzungstätigkeiten. Vgl. Schnyder-Sprofs Familie Rahn 1951, 383–385.
Elegie im Krito gemachet
Vgl. Brief letter-bs-1752-02-16.html.
Siegesgott der Liebe
[J. P. Uz], Sieg des Liebesgottes. Eine Nachahmung des Popischen Lockenraubes, 1753.
Domestichezza
Übers.: »Zahmheit«.
Helveten von Schinznach
Vgl. Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach, 1771.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann