Brief vom 29. Juli 1767, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 29. Juli 1767

den 29. Julius 1767.

Mein liebster Freund.

Die beyden stände haben keinen Gebrauch von der ouverture des Hn Ambassadors gemacht, daß der Hof es zufrieden wäre, wenn die Genfer sich durch sich selbst verglichen; nur, daß er die Garantie des neuen Reglements nicht übernehmen würde. Der Rath von Genf war doch ganz verlegen als er diese gedanken vernahm. Er hatte keine Ruhe bis er den Duc de Choiseuil anders gestimmt hatte. Er erklärte den ständen geradezu, daß er verlohren wäre, wenn er mit den Citoiens tractiren müßte, und wenn man nicht prononcirte. Er wußte schon, daß der Abschied von Arau ihn zum superieur des Cons. Gen. machete.

Bern erkannte mit 93. stimmen gegen 50. daß man den Rath nicht zu gütlicher Handlung auffodern, sondern prononciren sollte. Das war was man in Zürich wünschete. Der Doctor Hirzel und ich waren die einzigen die aus allen Kräften arbeiteten daß man den Rath ermahnen sollte sich unter sich selbst zu sezen. Man sagte, man könnte den Rath nicht zwingen; die Citoiens hätten alle Conciliation verwürkt, als sie den plan der Mediation verworfen, der König hätte nur par depit die Conciliation unter sich, zugeben wollen; er würde es empfinden und Genf zu empfinden geben, wenn sie ohne ihn pacificirten, und die stände selbst würden daher in gefahr kommen.

Ferner: Die Ruhe des Vaterlandes müßte Genf vorgezogen werden. Das prononcé sey der kürzeste weg, dem geschäft ein Ende zu machen. Der Rath hätte ohne die garantie des Königs keine sicherheit, keinen gehorsam.

Gegen diese elende Geschwäze richteten wir nichts aus. Und doch waren De Luc, der erste von den Commissaires und Rilliet nach Bern und Zürich gekommen, und hatten ihre Sache bey allen geheimden Räthen und andern plaidirt. De Luc trägt die aufrichtigkeit und sanftmuth im Gesicht, er ist an Muth, philosophie, patriotisme, beredsamkeit, ein Brutus. Rilliet ist ein Cassiolus; er redet mit der Lebhaftigkeit eines Acteurs de Theatre. Sie haben grosse, offenbare, Wahrheiten, unangenehme Wahrheiten in ihrer vollen stärke gesagt. Man hat ihnen gute worte gegeben, welchen die Werke nicht entsprachen.

Die furcht dem König zu mißfallen hat überwogen, und noch mehr die Maxime daß ein Magistrat dem andern assistiren müßte. Man thut, was man thun sollte die Citoiens wild zu machen. Sie hatten an der ligne de rejection ein Palladium, wenn der Rath seine Gewalt mißbrauchete, indem sie dann keine sindics erwähleten. Izt hat Bern in den preavis des prononcé gesezt, die sindics müßten jährlich erwählt werden. Der grosse Haller, der heftigste Negatif, hat diesen Zusaz betrieben. Er soll doch nicht ermehret worden, sondern à point nommé in die Erkenntniß gekommen seyn. In Arau war er verworfen worden. Von den schinznacher Helvetiern, die in Bern und Zürich Standesglieder sind, war bey uns nicht einer, der für die gute Sache geredet hätte, und in Bern allein Tavel. Dieser Tavel ist Sinners, des plenipotenciaire, tochtermann, und hat von ihm das baret empfangen. Er hat ein kizlichtes Gewissen; einmal wollte er das bareth resigniren weil er der Absicht des Schwähers mit demselben nicht entsprechen könnte. Außer dem Rathhaus denken unsere Schinznacher wie wir, aber sie schweigen, wenn sie uns unterstüzen sollten. [→]Ich irre, Hr. Zunftmeister Ott und Hr. Rathsherr Kilchsperger nehmen offenbar die partey der Negatifs. Hr. Engel hat memoires über memoires geschrieben; die patrioten nehmen von ihm Rath, er selbst kann in der grossen versammlung nicht reden, weil er ein sehr schwaches gehör hat. Einmal redete er über eine sache, die nicht in deliberation war, er hat sich den Haß der Grossen zugezogen, mit wenigen Erfolgen; es ist ihm zu verzeihen wenn er von dem Kampfplaz gehet.

Der Doctor Hirzel und ich haben auch unsre Hasser, die uns aber nichts schaden können, weil wir nichts von ihnen verlangen. Sie fürchten uns doch und geben uns glatte, honigte, Worte. Der Doctor hat vorigen samstag den blinden Rathshrn Hirzel mit einer donnernden stimme apostrophirt. Cicero würde sagen [→] Sonitus suos tantos fuisse ut usque Berolinum exaudiri potuissent.

Wenn das prononcé nach dem preliminaire erfolget, so werden die Citoiens zwar den Kopf hängen und schweigen bis der magistrat davon einigen starken Gebrauch machet; aber es ist unmöglich, daß dann nicht einige der entschlossensten sich widersezen, und dise werden die andern nachziehen. Dann muß ein Aufstand entstehen, der blutbad und verderben verkündiget. Wenn die französischen Truppen dann noch vor Genf liegen, werden sie die stadt berennen, wo nicht, wird der Rath die Schweizer mahnen, und dise werden dann Kraft der Garantie zu feld ziehen müssen, ihre bundsgenossen zu ermorden. Alles dises Übel werden wir der hohen Mediation zu danken haben.

In Versois ist ein französischer generalingenieur; der König will da ein fort und einen port anlegen, Versoix soll eine Handelsstadt werden, Genf auf dem Naken zu sizen. Das wird der lohn für die feige nachgebung der Berner seyn. Doch sagt man izt, die sache würde unermeßliche summen kosten, und dises mache das vorhaben rükkgängig. Der stadt Bern ist mehr bange vor den preussischen prätensionen an Neufchatel. Man liebt Frankreich und fürchtet Preussen. Man möchte sich gern beyden gefällig machen. Die Neufchateller schreiben starke memoires und representationen. Aber man braucht gegen sie das droit negatif des rathes von Genf.

Die grossen zu Bern haben nicht gern gehört, daß Lentulus von Frankreich so klein gesprochen hat. Er möchte ihre Bauern froh gemachet haben.

Man schreibt mir aus Paris: Vous allez voir un memoire qui deplaira beaucoup au partisans du Gouvernement aristocratique – je le crois assez bien fait pour être dangereux, sil ne produit tout le bien que l’auteur ose en esperer. Ich weis nicht, was für eine geburt das ist.

Unser Waser hat wie sie, mein theurester, unser Vaterland dem gnädigen Gott empfohlen; seitdem er sieht, daß man Maximen und handlungen für Einsichten, Patriotismus und wahre politik verkauft, die – und daß man dafür noch hochachtung und dank von uns fodert. Er meint es müssen wunderwerke geschehen, wenn wir in 100. jahren (er ist gütig) nicht das sind wozu man uns vorbereitet.

Ich denke man vorbereitet uns daß in hundert jahren der König uns unsern geschwornen fundamentalbrief garantiren muß, damit der Rath sicherheit und gehorsam habe; die ohne Zweifel izt nur schwach und baufällig sind, weil wir noch glauben daß wir sie mit liebe und redlichkeit erwerben müssen.

Jemand hat gewünscht, daß man historiam arcanam diser mediation für den Pult schreiben möchte. Man sollte dieses der sterbenden freiheit zum leichbegängniß thun. Je historischer sie würde, und wenn man die orationes moratas die eigensten Reden der Personen, wie in Kistlers Geschichte einfliessen liesse, desto unglaublicher würden sie werden, desto mehr die mine einer puerilen satire bekommen.

Ich wollte lieber ein politisches testament schreiben, wenn ich nicht fürchtete, daß es uns mehr am Willen als am Verstand fehlet. Meine Ohren sind bald so gewohnt subtilitäten und puerilitäten mit gravität aussprechen zu hören, daß ich sie ohne Empfindung und schier gleichgültig vernehme. Wenn ich wenig oder viel dagegen arbeite, so geschieht es ohne hoffnung, und gemeiniglich aus einem rest von activem geist, seitdem ich aufgehört habe, die Muse zu bedienen. Wenn ich zu ihr zurükgehen soll so müssen sie, mein theurester, mich an der hand leiten. Ohne ihre escorte darf ich in diesem Frost des Alters mich nicht in die Pläze wagen, die von den Michaelis, Nicolai, Harschern, Weissen, den Häschern des deutschen parnasses besezt sind.

Die Veranstaltungen gegen dise despoten des geschmakes kommen mir so verächtlich, und alle kräfte sie zu bestreiten so sehr verlohren vor, daß ich dabey gleichgültig zu werden anfange, wie bey den politischen Angelegenheiten. Auch hier ist bey mir die lezte kränkende Empfindung vorüber. Da der bonsens dahin ist, warum wollen wir uns um den beausens bekümmern?

Ich erwarte jeden Posttag zwey der angenehmsten Nachrichten, daß ihre liebsten töchter die Poken überstanden haben, und daß sie in ihrer Einsamkeit ihr eigen und ihres Gartens sind.

Unterlassen sie doch nicht uns von den Verbesserungen ihres Gymnasii particulare Nachrichten zu geben, weil wir sie vermuthlich bey den unsrigen brauchen könnten. Mein lezter Brief war schon auf der post als ich den ihrigen vom 20. Junius empfing.

Ich sehe unsern besten Wegelin als den einzig übrigen statorem der politik und des geschmakes an; da er französisch schreibt, findt er desto mehr glauben.

Ich umarme ihn und Sie.

Bo.

Der Artikel in der göttingischen Zeitung, wo man protestirt, daß nicht alle Schweizer in dem morgenländischen patriarchalischen Geschmak seyn, ist von dem großen Haller selbst.

Heß von Neftenbach, der Neveu und Vicar unsers Freundes hat den Tod Moses in 400 Hexametern geschrieben: potuisset melius. Er hat Klopstoks Schinzin mit den blauen Augen geheurathet.

Ziegler der Mathemat. hat mit dem gerichtshr. Sprüngli nicht aufrichtig gehandelt.

Die allgemeine deutsche Bibl. supprimirt jeden artikel, den sie zum besten der Züricher empfängt.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Anschrift

A Monsieur Soulzer de l'academie royale des sciences et professeur à Berlin franche Nurnbg.

Eigenhändige Korrekturen

Ich irre [...] Negatifs
*Ich irre [...] Negatifs

Stellenkommentar

De Luc
Zu Jean André De Lucs Rolle in den Genfer Unruhen siehe Hübner Deluc 2010, S. 58–65.
Rilliet
Der Anwalt Théodore Rilliet.
Sonitus suos [...] potuissent
Übers.: »dass seine Töne solche gewesen sind, dass sie bis nach Berlin hätten gehört werden können.«
Versois
Die unweit von Genf, am Genfersee gelegene und für die Franzosen strategisch wichtige Handels- und Hafenstadt Versoix.
ein französischer generalingenieur
Das Projekt lag in den Händen von Pierre Joseph de Bourcet.
Man schreibt mir aus Paris
Vermutlich in einem Brief von Jacques-Henri Meister an Bodmer, der allerdings nicht ermittelt werden konnte. Übers.: »Sie sollen einen Aufsatz sehen, der vielen Anhängern der artistokratischen Regierung missfallen wird. Ich halte ihn für gut genug verfasst, und potenziell gefährlich, wenn er nicht all das Gute verrichtet, das der Verfasser sich davon erhofft.«
Kistlers Geschichte
Peter Kistler (gest. 1480), Metzgermeister und Schulthess von Bern. Bodmer hatte bereits 1735 im Rahmen der Helvetischen Bibliothek die Schrift D. Thüring Frickards Bescheibung Der Streitigkeit zwischen Der Stadt Bern und den Twingherren Unter Peter Kistlers Regierung publiziert (St. 3, 1735).
Harschern
Johann Gottfried Herder, den auch Wieland und Salomon Geßner in Briefen aus dem Jahr 1767 zunächst fälschlicherweise »Harscher« nannten.
Artikel in der göttingischen Zeitung
Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 28. März 1767, St. 38, S. 303 f.
Tod Moses
[J. J. Hess], Der Tod Moses. Ein Gedicht. Dem Herrn J. C. Hessen, Pastor zu N[eftenbach], zugeeignet, 1767.
potuisset melius.
Übers.: »könnte besser sein«.
Ziegler der Mathemat.
Vermutlich der Winterthurer Naturwissenschaftler und Arzt Johann Heinrich Ziegler.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann