Brief vom 7. Juli 1766, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 7. Juli 1766

Zürch den 7ten Jul. 1766.

Gewiß sind sie mein theurester über und über mit geschäften beladen; wie könnten sie sonst mich so lange ihrer liebsten Zuschrift berauben! Escher ist zurük und hat mir vieles von ihnen erzählt. Ich bin wol mit diesem jungen Menschen zufrieden, er zeigt ein gutes Herz und hält sich zu unsern jungen patrioten, die sich doch etwa von ihrem Feuer weiter hinreissen lassen, als die Klugheit unsers Doctors und unsers Stadtschreibers, seines Bruders, gutfinden. Also hat Füßli seinen Zunftmeister, den Spitalmeister Weber am Meistertag ausgestellt, und nach einander 10 andere an seine statt genamset, die alle diese stelle ausgeschlagen haben, wiewol viele derselben dadurch auf 6. jahre unfähig wurden in den kleinen Rath zu kommen. Izt giebt man ihm schuld, daß er sie unnüze, d. i. unfähig gemacht habe. Weil Füßli auch viel in dem Erinnerer schreibt, das sehr gut auf die sitten unsrer stadt passet, muß er die ungnade großer und kleinerer Herren tragen. Ein sehr populares Trinklied auf freiheit und bürgerliebe und Rechte ist als gefährlich vor Rath gezogen und mit Entrüstung verworfen worden. Ich selbst verdiene öfters scheele Gesichte von unsern aristocraten. Der französische Hof, der 1738. der Bürgersch. von Genf günstiger war als die beyden stände, ist izt umgekehrt des Magistrats. Dieser hatte von langer Hand den plan einer Revolution in der Regierung überdacht. Er sagte bey allen Gelegenheiten, sie hätte nicht stärke genug. Der procureur general Tronchin hat seinen Vater zu rächen, der 1734 degradiert worden. Der Doctor Tronchin, sein Vetter, hatte nicht wenig Herren von höchstem Rang aus Paris nach Genf gezogen, welchen der procureur, ein genie superieur, und der prächtig lebt, mit grossem Vortheil, die Aufwart gemacht hat. Sein Vetter der fermier general, that eben dises in Paris. Und Mr. Cromelin ein feiner Fuchs, des Magistrats Agent zu Versailles, verreiste von Genf vollen grolls gegen seine Mitbürger, die ihm die stelle eines Auditeurs verweigert hatten. Er machte sich ein geschäft daraus an dem Hof gegen sie zu arbeiten. Nachdem der Magistrat sich zuerst der Gunst des Hofes versichert hatte, rief er die Mediation und die garantie an. Die Stände glaubten es sollte auch nichts anders, als eine Intervention seyn, und die garantie sollte nur Plaz haben, wenn Contraventionen gegen das Reglement von 1738 geschehen wären. Die Grossen von Zürich und von Bern hatten viel Affektion für den Magistrat, es sey aus sympathie, oder aus mangel an Einsichten. Bey uns gewiß giebt man sich wenig Mühe die Schriften die pro et contra publicirt worden, nur zu lesen. In drey monathen thaten die Hhn Mediatores kaum etwas mehrers, als daß sie sich wegen des Arrangemens ihrer Arbeit vereinigten. Den Citoiens ward gegönnt ihre Griefs durch Committirte einzulegen; als plözlich der Magistrat alle Handlung hintertrieb, indem er vorwendete, daß er in den Schriften und Representationen als ein falscher ungerechter Rath vor aller Welt injurirt worden, und nicht weiter functioniren könnte, bis ihm eine solenne declaration d’honneur von den Mediateurs ausgefertigt würde. Der Hr. von Beauteville minutirte eine solche, nicht nur in Termes, welche die Representanten für Calumnianten dargaben sondern in decisionen über die hauptstreitpunkten. Die Gesandten der stände sezten eine andere dagegen, die nur noch zu stark ist; und sie schikten diese ihren principalen zu, ob sie ihnen anständig wäre. Man war leicht genug, Hn. Beautevilles Aufsaz zu moderiren und so mitigirt gut zu heissen. Aber Beauteville sagt, daß er gewissen Befehl habe, nicht einen Buchstaben nachzugeben. Man hatte den Citoiens aus diser Handlung ein Geheimniß gemacht. Als es doch transpirirte, machten die Cit. eine representation dem Hn. von Beautev. Diser gab ihnen eine Antwort von donner und bliz, [→]que comme garant il etoit en droit de prononcer sur leur conduite, qu’il poursuivroit les auteurs, pour en exiger une punition convenable. Zu gleicher Zeit hat der Duc de Choiseuil an beyde stände in demselben Ton ganz gebietend geschrieben. Wir haben ihm voller Ehrfurcht geantwortet, daß wir die sanften, milden, republicanischen Wege nicht verlassen könnten.

Es ist Hoffnung, Bern werde stärker antworten. Die wolgesinnten haben dort die Oberhand, ungeachtet daß beyde Gesandten Hr. Augsburger und Hr. Sinner ex professo von Genf nach Bern gereist waren den Acte de declaration und die Decisionen des Hn von Beauteville durchzutreiben; durch welche die Representanten ab ovo wären verfüllt worden. Und nichts zu negotieren übrig geblieben wäre als wie man sie abstrafen wollte. Würklich sind sie in Hn. Choiseuils Schreiben schon par graçe specielle proscribirt. Obige beyde gesandten haben in der großen Rathsversammlung von Bern ofentlich sich darauf bezogen unser zweite Gesandte Hr. Sekelmr. Heidegger wäre vollkommen in ihren und H. v. Beauteville und des Hofes Gedanken. Aber unsern ersten gesandten, Hn. Statthalter Escher, hat der Duc de Choiseuil in seinem Schreiben gerade zu verklagt daß er sich allen Maßregeln Hn. von Beauteville ohne Egards widersezte, und die partey der Demagoguen hielte. Beynahe hätte er angetragen daß man ihn zurükrufen sollte.

Sie sehen wol, mein Sulzer, wenn durch das droit negatif alle Representationen der Cit. unnüze gemacht würden, daß der Magistrat dann eine unbeschränkte Macht hätte, welche er Frankreich schuldig wäre, und nur unter des Hofes Schuz behalten könnte.

Man tractirt 34 der Cit. als Criminels, weil sie verlangen daß man ihnen erlauben sollte, im Conseil General et souverain zusammen zu kommen, und da das pouvoir legislatif auszuüben, welches in dem Reglement von 1738 ihnen zugestanden und garantirt ist. Und sie wollten doch nur zusammenkommen die streitigen Geseze und Artikel zu erklären, damit allem Mißverstand ein Ende gemacht würde.

Wer siehet nicht, daß Frankreich sich über sie und über die Stände moquirt? Frankreich und der Magistrat wollen, daß wir ihnen zu dem Despotisme in Genf behülflich seyn, damit sie sich vor der Welt desto besser rechtfertigen, wenn der größte Tadel auf uns, als Republikaner fällt. Nichts als Einstimmung zwischen beyden ständen, und schweizerische, alte, standhaftigkeit kann den Schlüssel der Schweiz retten. Wenn wir nur so viel Herz haben, als Zug neulich gehabt hat, da der Amabassador ihnen schreiben laßen, wenn sie ihre banditen, Frankreichs beste Freunde, nicht wieder heimberiefen, und in ihre Würden einsezten, so sollten sie sich auf Frankreichs freundschaft, noch auf die salzgratificationen keine rechnung machen. Zug antwortete, daß sie diese sachen entbähren wollten.

Ich wünschte, daß ich Bern den Gedanken einpflanzen könnte, einen representanten zu uns zu schiken, der uns die Augen über die wahre Natur der Genferischen Sachen und unser Interesse eröffnete. Es ist überaus nöthig, ich hoffe, daß Hr statthalter Escher es à corps defendant thun werde. Denn wir wußten bisher nicht, wie unsere beyden Gesandten vor sich hierüber dachten. Es ist unglaublich mit welcher Ruhe, welcher Geduld die Representanten in Genf sich betragen. Welche Gründlichkeit sie mit dem größten Respekt zu vereinigen wissen. Was man trouble heißt, ist da nichts, und man wird in keiner Historie solche Mässigung in dergleichen Fall finden. Wenn ihre Gedanken irrig sind, so sind es fehler des Verstandes, sagen sie, und man macht Crimes daraus. Als der Hr. Beauteville den Committirten gedrohet, daß er sich an ihre Personen halten wollte, haben die representanten aus den 12 Cercles der Citoiens 24 andere committirt, ihm zu sagen [→]que la derniere representation et tous les Memoires qui l'ont precedés sont l'ouvrage de tous les Citoiens et non d'aucun auteur particulier.

Unser Dr. ist fast der einzige, der noch die gute partey unterstüzet, wiewol nicht allemal standhaft genug. Ich hoffe, nachdem Bern zu uns steht, wird es besser gehen. Er sieht sehr auf applausum. Izt ist er mit unserm l. schuldheiß Sulzer und etlichen wakern Zürichern in Trogen. Die Tracasserie des franz. hofes geschah in seiner Abwesenheit. Sein Feuer und seine maxime von prudenz machen einen seltsamen Contrast. Sagen sie unserm l. Wegelin daß sein Jean Schoulthess von Paris als ein Pariser zurük gekommen, daß ihm alles ekelt, was nicht parisisch ⟨läßt⟩, selbst die Schönheit, die es nicht im parisischen Geschmak ist. Der Doctor schreibt izt des verstorbenen Junker Obmann Blaarers Denkmal, oder vielmehr drukt er es, denn er schreibt nicht, eh ihn der sezer auffodert. Unser Director S. ist eine hochoberkeitliche Posaune. Unser Wegeli ist der einzige, der eine vernünftige Historie des deutschen Reiches schreiben kann.

Zachariäs Cortes ist ein so kleiner Held, als klein der vers ist, in welchem er ihn besingt.

Ich habe nicht ein Jota von Füßli, ich weis von andern, daß er in Lyon meistens im Cabinet bleibt. Ich giesse zuweilen mein Herz in unsers Wasers Schooß aus, wo mir tröstlich geantwortet wird. Bald hoffe ich unsern Schultheiß Sulzer zu sehen. Wir haben einen Zunftm. gehabt, einen jungen Mann der diese stelle aus freyen Stüken an dem tage, da er wieder ernannt war, ausgeschlagen hat.

Ich umarme Sie.

Bodmer

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Eigenhändige Korrekturen

haben dort die Oberhand
haben ⌈dort⌉ die Oberhand
hätte er angetragen
hätte maner⌉ angetragen
unnüze gemacht würden
unnüze ⌈gemacht⌉ würden

Stellenkommentar

Escher ist zurük
Der Kaufmann und spätere Landschreiber Salomon Escher (1743–1806) hatte sich 1766 in Berlin aufgehalten. Von dort ist auch ein an Bodmer adressierter Brief vom 8. Januar 1766 überliefert (ZB, Ms Bodmer 2.21). Darin berichtete Escher von seiner »Lebensart in Berlin u. den Nuzen welchen ich von dero schäzbaren Freunden ziehe«, womit vor allem Wegelin und Sulzer gemeint waren. Escher schrieb über Wegelin, bei dem er »speise«, und dessen Zusammenkunft mit Friedrich II.: »Hr. W. konnte die liebreiche Art, mit welcher Er von diesem Monarchen unterhalten worden nicht genug rühmen. Die verschiedenen Gegenstände über welche sie geredt waren ohngefähr folgende. Von der Philosophie der Alten u. Neüern, von der Poesie, von der Academie bey welcher Hr. W. steht u. von dem beyliegenden Discours. Der König begehrte von Hr. W. daß Er diese jungen Leüte nach einer gewißen Methode in der Historie unterrichtete, welche selbige in den Stand sezte, richtig von den Sachen zu urtheilen, wozu erfordert wird, daß man selbige zuerst gründlich untersucht habe. [...] Sie werden bald das Vergnügen haben zu vernehmen, daß der König Hr. W. zum ordentlichen Mitglied der Academie des Sciences bestellt. Hr. W. lebt hier sehr vergnügt: Er ist von jedermann geliebt, u. hat schon viele sowohl angenehme als vortheilhaffte Bekanntschafften gemacht.«
Füßli
Johann Rudolf Füssli.
sehr populares Trinklied
Vgl. Brief letter-bs-1766-09-09.html.
que comme [...] convenable
Übers.: »dass er als Garant berechtigt sei, ihr Verhalten zu beurteilen, dass er die Verfasser verfolgen werde, um eine angemessene Strafe über sie zu verhängen«.
que la derniere [...] particulier
Übers.: »dass die letzte Repräsentation und alle vorhergehenden Gesuche das Werk aller Bürger und nicht eines besonderen seien«.
des verstorbenen Junker Obmann Blaarers Denkmal
H. C. Hirzel, Das Bild eines wahren Patrioten, 1767.
Zachariäs Cortes
J. F. W. Zachariae, Cortes: Ein Heldengedicht, 1766.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann