Brief vom 27. März 1764, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 27. März 1764

Zürch den 27sten märz 1764.

Mein theurester Freund.

Diese Zeilen wird Ihnen Hr. Rahn, ein junger Minister übergeben, unsers Herren Archidiaconi und Canonici Rahnen sohn. Er glaubt mit einem schreiben von mir sey Er bey ihnen desto willkommner, und er hat ursache es zu glauben. Er wäre gern zu Hn probst Spalding in die Kost gegangen, ich zweifle aber, daß es seyn könne. Ich überlasse dises vorhaben unsern Lavater und Heß zu besorgen und bediene mich nur dieser Gelegenheit Ihnen die erste dissertation unsers neuen Theologi und meinen Cicero zuzufertigen; auch ein wenig mit ihnen zu plaudern. Die dissertation ist schwach und wir wollen mehr für das künftige hoffen, als sie verspricht. Es ist ein kleines lob daß sie doch besser sey als des vorigen Theologi. Ich seze dieses scholastische Geschwäz gleich nach den unmoralischen handlungen. Urtheilen sie ob sie es unsern theuren Probst und Hn Hofprediger Sak zeigen dürfen, oder ob die weltliche erfodere, daß sie ihnen unsere schwäche verbergen, welche verborgen nichtsdestoweniger da seyn wird. Von solchen Theologanten und solchen Predigern werden die sitten, folglich der Staat, wenig Vortheile haben.

Man hat nicht bemerkt, daß in meinem Cicero mehr historische Wahrheit als Erdichtung ist; weil man die Epistolas ad Atticum nicht gelesen hat, und den Cicero nur aus seinen öfentlichen Reden beurtheilt. Man kennet und siehet wenigstens nur den äusserlichen mann l'home public qui s'est arrangé pour etre vû; in den umständen, wo er vor Cäsar wie ein schauspieler aufgetreten ist. Man hat hier nicht viel daraus gemachet, auch der verfasser des Junius Brutus nicht.

Unser Wegelin ist wol damit zufrieden, doch sagt er, man konte keinen Cato aus dem römischen Redner machen. Er wünschte daß Cicero so wahr ein Cato mit seinen Werken als mit seinen worten gewesen wäre. Er hat doch bekannt, daß es so schwer wäre für das Vaterland zu leben als für dasselbe zu sterben. Denn man machet uns das leben so bitter, daß die bitterkeit des Todes geringer wird. Und Cicero hat sich gewiß nicht mehr als das Vaterland geschont, oder sich mehr für sich selbst, als für die Republik gefürchtet.

Wegeli hat bey gelegenheit des neuen Todes Adams gesagt, [→]der mensch, der diesen Tod gedacht, verdiente auf dieselbe Art zu sterben. Und wenn er über die worte predigen sollte: Es wird freude seyn im Himmel über einen sünder, der Buße thut, so wollte er die begriffe dises sünders von dem neuen Cain entlehnen.

Das sind doch gütigere Einfälle als unser Geßners! Sie sollen aber auch gerecht seyn.

Ich habe Ihnen durch Hn Jezeler [→]die gedrukten dialogues par un ministre suisse, wider Vernes für Rousseau zugefertigt. Sie wissen schon, daß Wegeli der minister ist; wiewol wir ihn dem publico nicht entdeken, damit seine sehr kleinen, sehr bösen amtsbrüder nicht gelegenheit nehmen, ihm verdruß zu machen.

Wegeli erwartet unsers Lamberts novum organon mit der grösten sehnsucht. Auch unser Chorherr; auch unser sekelmeister Heidegger. Izt werden Hn. Lamberts cosmologische Briefe in dem Journal von Neufchatel ziemlich gut übersezt den Franzosen gegeben. In jedem Monat kommen ein paar Briefe.

[→]Unser brave schuldheiß von W. erträgt den Verlust, den wir an unserm liebsten freunde erleiden, am ungeduldigsten. Hoffnungen, die seine ganze seele eingenommen hatten, Entwürfe der schönsten scenen seines übrigen Lebens sind damit verschwunden. Nichtsdestoweniger bewundert er Sie ebenso hoch als den König. Unser Künzli und unser Waser sind schon stark genug, sich in diese beraubung. Eine beraubung, welche Sie dem König, dem publico, diesem höhern stand giebt, dünkt sie erträglich. Sie meinen, Sie, mein Wehrtester werden es für keinen Raub halten, ein großer Herr zu seyn. Ich kann nicht leugnen, daß ich es dafür gehalten habe, als ich in unserm staat eine Zürcherische Grösse hätte haben können.

Man sagt Voltaire habe eine Art dramas von Saul geschrieben, in welchem er diesem ersten König Israels nicht eine Onze Ehre läst. Der Catechisme d’un honête homme ist noch nicht hier.

Unsere Gesandte Escher und Heidegger sind wider bey dem Ambassador wegen der neuen Formation. Das Körbgen wäre schon gemacht, wenn Bern nicht gewisse partiale, eigennüzige, foderungen, nicht für das vaterland oder für den stand, denn diese stüke sind im reinen, sondern für particulare personen gemacht hätte, von welchen es aber am Ende desistirt.

Der Canton Schwyz hat auf einer landsgemeind erkannt, der Mareschal Reding soll auf die Mayen landsgemeind erscheinen rede und antwort wegen seiner Annahme der neuen Formation zu geben; würde Er nicht kommen so sollte ihm das landrecht genommen und seine Güter confiskirt werden. Unser Doctor Zellweger meint das sey ein Mittel die Cadavers von Republik wieder zu beleben; ich fürchte es sey nur eine Boutade, die Auferstehungen von den Todten geschehen nicht per Saltum, und ich sehe da nichts festgeseztes oder vorbereitetes.

Ihr ergebenst. dr.
Bodmer.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Der Brief wurde von Johann Rudolf Rahn überbracht. Dabei waren Bodmers Cicero und Johann Jakob Cramers Dissertatio theologica vom März 1764.

Eigenhändige Korrekturen

Predigern werden
Predigern wird werden

Stellenkommentar

Rahn, ein junger Minister
Johann Rudolf Rahn (1742–1786), Sohn des Johann Rudolf (1712–1775), Archidiakon und Chorherr. Nach seinem Studium unternahm er 1763 als angehender Theologe (Verbi Divini Minister) – angeregt durch die Berichte von Füssli, Lavater und Hess – eine Studienreise nach Berlin.
dissertation unsers neuen Theologi
Wohl Johann Jakob Cramer (1714–1769), Theologe, 1736 ordiniert, seit 1756 Professor der griechischen und lateinischen Sprachen und seit 1763 Chorherr und Professor der Theologie als Nachfolger des verstorbenen Theologen Hagenbuch, über den er 1763 eine Gedenkdissertation verfasste (H. J. Leu, Lexicon, 1788, Suppl.-Bd. 3, S. 400). Bodmer meint jedoch vermutlich seine erste, im März 1764 verteidigte Dissertation am Carolinum mit dem Titel Dissertatio theologica de singulari, quae regi Davidi obtigit, divina patefactione, fore, ut Messias Deus homo ex eius stirpe nascatur: ad II. Samuel c. VII:19 coll. sum I. Chron. c. XVII:17.
unsern theuren Probst
Johann Joachim Spalding.
die Epistolas ad Atticum
Ciceros Epistulae ad Atticum (Atticus-Briefe).
l'home public qui s'est arrangé pour etre vû
Übers.: »Den öffentlichen Menschen, der es darauf abgesehen hat, gesehen zu werden.«
der verfasser des Junius Brutus
Salomon Hirzel. Siehe dazu Brief letter-bs-1760-08-09.html.
doch sagt er
Vgl. Wegelin an Bodmer, St. Gallen, 3. Januar 1764: »Das Betragen des Tullius ist in seinem Caracter, und man konte keinen Cato aus dem Römischen Redner machen, allein man wünscht doch, daß er es so wahr mit seiner Handlung, als mit seinen Reden wäre.« (ZB, Ms Bodmer 6.7a, Nr. 82).
der mensch, der diesen Tod
Briefstelle nicht ermittelt. Aus dem Text wird nicht ersichtlich, ob sich Wegelin auf Klopstocks oder Bodmers »Adam«-Drama bezog.
Es wird freude seyn im Himmel über einen sünder, der Buße thut
Luk. 15, 7: »Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.«
Jezeler
Christoph Jetzler (auch Jezeler). Der aus Schaffhausen stammende Kürschner studierte autodidaktisch Mathematik und Physik und knüpfte Kontakte zu Sulzer. Auf seinen Wunsch hin, sich in Berlin weiterzubilden, nahm Sulzer den »geschikten Mathematicum, dem ich schon lange die Gefährtschaft versprochen« (Sulzer an Lavater, Winterthur, 3. März 1763, ZB, FA Lav Ms 528.268) auf die gemeinsame Fahrt nach Preußen im März 1763 mit. Jetzler lernte in Berlin bei Leonhard Euler und unternahm weitere Reisen. 1766 wurde er schließlich zum Stadtbaumeister in Schaffhausen ernannt (H. J. Leu, Lexicon, 1788, Suppl-Bd. 3, S. 274 f.).
die gedrukten dialogues
Vgl. den beiliegenden Brief letter-bs-1764-03-26.html zur Sendung vom 26. März 1763. Zu Wegelins Dialogues vgl. Brief letter-bs-1763-09-30.html.
in dem Journal von Neufchatel
Die anonym veröffentlichte Übersetzung Lettres cosmologiques sur la structure de l'Univers. In: Journal helvétique, Februar 1764, St. 2, S. 115–150. Von der Übersetzung erschien nur die erste Folge mit den ersten zwei Briefen. Der Übersetzer ist nicht ermittelt.
brave schuldheiß von W.
Vgl. Johannes Sulzer an Bodmer, Winterthur, 18. März 1764: »Nun ist eine der angenehmsten Hofnungen in meinem Leben, die meine ganze Seele erfreüte, auf einmahl verschwunden! Sulzer der würdigste Mann, Mein bester mein unschäzbarer Freünd wird und kann nicht mehr der unsrige werden. Nur sein Angedenken wird unausschöpflich im Herzen bleiben. [...] Diese Nachricht von unserm Liebsten, die Sie mir zu geben beliebt, habe unsern Freünden W. u. K. ohne Anstand auch communicirt. Sie sind stark genug, sich darin zu finden.« (ZB, Ms Bodmer 5.18).
in diese beraubung
Verb von Bodmer vergessen.
eine Art dramas von Saul
Vgl. Brief letter-bs-1764-03-26.html.
Onze
Unze.
Catechisme d’un honête homme
Voltaire, Catéchisme de l'honnête- homme, 1763.
desistirt
Absieht.
der Mareschal Reding
Der General Josef Nazar Reding stand zu dieser Zeit noch in Frankreich an der Spitze eines Schwyzer Regiments.
Doctor Zellweger meint
Zellwegers letzter Brief an Bodmer, Trogen, 16. März 1764: »ne sont ce pas là des moyens pour resusciter les Cadavres & de leur rendre leur ancienne vivacité?« (ZB Ms Bodmer 6a, Nr. 532).
Boutade
Übers.: »Bonmot, Scherz«.
per Saltum
Übers.: »durch einen Sprung«. Einer der Grundsätze der rationalistischen Philosophie in der Frühen Neuzeit besagt, dass in der Natur nichts sprunghaft geschehe, sondern nur durch kleinste Übergänge.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann